Kains Erben
heiraten wollte, auf das ich kein Recht hatte.«
Er zog sie wieder in die Arme, und auf einmal lösten sich die Tränen. Sie weinte um jenen Tag, an dem sie geglaubt hatte, ihr Leben liege strahlend und gesichert vor ihr. Sie weinte um die Kinder, die ohne Sorge gespielt hatten, um ihre lässlichen Sünden, ihre innige Freundschaft, ihre Liebe und ihren Treueschwur. Nach all den Jahren war es ihr endlich erlaubt, um das zu weinen, was sie verloren hatte. Um ihren Bruder Abel. Ihre zweite Hälfte.
Die Fragen kamen erst später. In jener ersten Nacht gab es für sie keinen Raum. Amicia hatte in Vyves’ Armen geweint, bis ihr die Kraft ausging und er an ihrem Ohr geflüstert hatte, sie müsse jetzt ein wenig essen und dann ausruhen, er werde sich um einen Schlafplatz für sie kümmern. Sich auch nur für Augenblicke von ihm zu trennen bereitete ihr körperlichen Schmerz. Doch er kam bald zurück und brachte ihr ein einfaches Mahl aus in Kümmel gekochtem Kohl, Brot und Wein.
Es tat so gut, in seiner Gegenwart zu essen, es brachte so viele Bilder aus glücklichen Tagen zurück. »Wir haben uns manchmal etwas aus der Küche gestohlen und es draußen am Flussufer gegessen, nicht wahr? Er hieß Medina, der Fluss …«
»Ich fürchte, wir beide waren keine Amseln, sondern schlimmer als Elstern.«
Sie hatte sich die Tränen noch nicht aus dem Gesicht gewischt und sträubte sich, es zu tun, denn ihr war, als wische sie etwas von Abel damit weg, aber mit Vyves konnte sie dennoch lachen. Er erklärte ihr, er habe von seinem Vermieter, Samuel Crespin, einen weiteren Raum mieten können, es sei nur eine winzige Kammer, aber es stünde ein Bett darin, und er werde ihr alles bringen, was sie brauche.
»Dich brauche ich«, sagte sie. »Du musst bei mir bleiben, Vyves. Gehen lassen kann ich dich nicht.«
In dieser Nacht gab es wahrhaftig keine Fragen. Weder wollte sie wissen, wie er seinen jüdischen Vermieter bewegt hatte, ein Christenmädchen in sein Haus aufzunehmen, noch fragte er sie, wo sie herkam und ob niemand sie suchte. Es gab für sie auch keine Grenzen und Gebote. Was seine Mutter und die Leute, mit denen er lebte, davon hielten, dass sie in der kleinsten Kammer des Hauses miteinander die Nacht verbrachten, scherte sie nicht. Was ihnen widerfahren war, war dafür zu ungeheuerlich.
Amicia lag in einem fremden Haus unter fremden Menschen, und doch war ein Teil von ihr nach Hause gekommen. Erschöpfung übermannte sie. Vyves hielt ihre Hand, während sie in traumlosen Schlaf fiel.
In den Wochen, die folgten, teilte sich Amicias Welt in Fragen, die sie beantworten wollte, Fragen, die sie beantworten musste, und Fragen, über die sie sich weigerte nachzudenken.
Zu den Fragen, die sie beantworten wollte, gehörte die nach dem Warum: Warum hatte jemand einen Findeljungen, der niemanden störte, in einen Brunnen gestoßen und ein Findelmädchen in einem Sack in ein Kloster verschleppt?
Zu den Fragen, die sie beantworten musste, gehörten die nach ihrem Verhältnis zu den Bewohnern des Hauses und nach den Regeln, an die sie sich halten musste, um bleiben zu können.
Zu den Fragen, über die sie sich weigerte nachzudenken, gehörte die nach den Menschen, die sie hinter sich gelassen hatte. Heimat war dort, wo man jemandem fehlte. Sie fehlte niemandem und hatte daher jedes Recht zu gehen. War nicht Matthew gegangen, ohne sich noch einmal umzudrehen? War er nicht fortgeblieben, ohne ihr auch nur ein Wort zu senden? Sie fehlte ihm nicht. Und von nun an würde auch er ihr nie mehr fehlen.
Über die Frage, was aus ihr werden sollte, mochte sie ebenfalls nicht nachdenken, und darin hatte sie Übung. »Ich war jahrelang etwas, das es nicht gab«, erklärte sie Vyves, »ein Mädchen in einem Zisterzienserkloster. Wie hätte ich mich fragen können, was aus mir werden sollte? Aus etwas, das es nicht gibt, wird ja nichts, und jetzt bin ich wieder etwas, das es nicht gibt: eine Christin im Haus eines Juden. Weshalb sollte es mich sonderlich stören, von Tag zu Tag zu leben? Ich bin wie die Amseln auf dem Feld, Vyves.«
Er nahm es hin, auch wenn es ihm schwerfiel. »Wenn man dich findet, drohen nicht nur uns schwere Strafen, sondern vor allem dir. Und dennoch will ich, dass du bleibst.«
Für Amicia war dies keine Frage. Wie hätte sie gehen können? Sie hatte gerade erst angefangen, den Schmerz zu fühlen, den ihre Seele fast zwölf Jahre lang vor ihr verborgen hatte, die Lücke, die in ihrem Leben klaffte, den Verlust ihres
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