Kains Erben
hat dich in ihrem Zimmer am Fenster sitzen lassen. Keinen anderen, nicht einmal Adam de Stratton. Du hast mir so oft davon erzählt.«
»Ja, und einmal haben wir ein Buch angesehen«, fiel Amicia ein. Sie sah sich auf dem steinernen Sitz vor dem Fenster kauern, sah, wie die schöne Isabel ihr entgegenrutschte, damit sie zwischen ihren Knien das Buch halten konnten, und spürte, wie die Knie der Frau die ihren berührten. Dann lenkte die Erinnerung Amicias Blick auf das Buch. Sie erkannte es sofort. Die zierliche Handschrift, die mit Gold unterlegten Bilder. Es war das Leben des Becket , das Randulph ihr gegeben hatte. Wie war es nach Quarr gekommen? Hatte Isabel gewusst, dass Amicia dort war, hatte sie es ihrem einstigen Pflegekind gebracht? »Sie hat gesagt, das Buch darf niemand berühren«, stammelte sie. »Es hat ihrem Bruder gehört, sie will nicht, dass es zu Schaden kommt – und mir zeigt sie es nur, weil ich ein Kind bin, wie sie eines war, und weil ich meinen Bruder über alles liebe.«
Vyves breitete die Arme aus und umfing sie mit ihnen. »Arme Amsel«, murmelte er. »Wie sollst du unter all diesen Fragen je den Boden sehen? Weißt du, was ich täte, wenn ich das Geld dazu hätte und mich so frei in diesem Land bewegen dürfte, wie ich wollte? Ich würde mit dir zurück auf die Insel reisen, nach Carisbrooke, damit du Isabel deine Fragen stellen kannst.«
Amicia überlegte. »Glaubst du, das könnte ich aushalten? Auf einmal vor ihr zu stehen, dort, wo ich mit Abel gelebt habe und wo er gestorben ist?«
»Vielleicht noch nicht jetzt«, erwiderte er. »Was gut ist, denn ich habe ja kein Geld für die Reise. Ein paar Pennys nur – aber die kann ich immerhin als Grundstock nutzen und sparen, bis du mir eines Tages sagst: ›Jetzt ist es so weit.‹«
Sie rechnete es ihm hoch an, dass für ihn feststand, dass sie die Reise gemeinsam antreten würden und dass er für sie da sein würde, wann immer sie bereit war. Wovon er allerdings Geld sparen wollte, war ihr ein Rätsel. Die Crespins gehörten zwar zu den wohlhabendsten Familien des Viertels, doch mit jedem Tag, den Amicia in der Milk Street lebte, wurde ihr deutlicher, wie dünn das Eis war, auf dem die Juden sich bewegten. Der Tuchhandel verlor einen christlichen Kunden nach dem anderen, weil niemand riskieren wollte, beim Handel mit Juden erwischt zu werden. »Ob sie das Gesetz ihrer Kirche mehr fürchten, das ihnen mit Exkommunikation droht, oder den Hass ihrer Nachbarn, die ihnen das Haus in Brand stecken könnten, macht für uns keinen Unterschied«, hatte ihr die schöne Deborah erklärt, die nach ihr sah, wenn Vyves im Geschäft war.
Deborah war höflich und gab ihr geduldig Antwort auf Fragen – ganz anders als Gideon, ihr Bruder, der für Amicia nur grimmige Blicke übrighatte. Unterschwellig aber spürte Amicia eine Feindschaft, die mit Gideons Zorn auf Christen nichts zu tun hatte. Sie richtete sich nicht gegen ein Volk oder eine Glaubensgemeinschaft, sondern gegen Amicia allein. Einmal sah sie Deborah mit Vyves auf der Stiege stehen, wie sie sie am ersten Tag vor dem Haus gesehen hatte: nahe beieinander, mit der kleinen Rebecca zwischen sich. Deborah trug ihren Schleier nicht, und Vyves zupfte an ihrem Haar, das von einem beinahe schwarzen Rot, aber so lieblos abgeschnitten war wie ihr eigenes oder das von Magdalene. Als Amicia den Ausdruck auf Deborahs Gesicht sah, glaubte sie zu wissen, weshalb die andere sie hasste.
Zwei Tage später brachte Deborah ihr eins ihrer Kleider, das sie gemeinsam für Amicia änderten. Amicia fiel mit der Tür ins Haus. »Du magst Vyves gern, nicht wahr?«
Deborah blickte von ihrer Näharbeit auf. »Das trifft es nicht«, sagte sie kalt. »Vyves spart Geld für unsere Hochzeit.«
Aber das geht nicht! , wollte Amicia herausplatzen. Wie konnte Vyves mit jemandem Hochzeit feiern, mit jemandem Pläne schmieden. Er gehörte doch zu ihr! Sie brauchte ihn doch wie die Luft zum Atmen! Jäh glaubte sie, in der stillen Kammer die piepsige, todernste Stimme eines kleinen Jungen zu hören. Euer heutiges Versprechen ist bindend. Wenn einer von euch einen anderen nimmt, begeht er die Sünde der Bigamie.
»Es scheint dir nicht zu gefallen«, bemerkte Deborah. »Hör zu, wenn Chaia Crespin ein Auge auf Vyves geworfen hätte, dann lieferte ich mir mit ihr einen Kampf unter Frauen, bis die Bessere gewinnt. Aber nicht mit dir. Du kannst Vyves nämlich nicht heiraten, und wenn du dich hundertmal so verhältst,
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