Kains Erben
Bruders – wie hätte sie es ertragen sollen, auch noch Vyves zu verlieren? Vyves, der ihr vertraut war, als wären sie nie getrennt gewesen, der ihre schönsten wie ihre grausamsten Erinnerungen teilte und Abel gekannt hatte.
Es fanden sich Wege, auch wenn sie steinig waren. Vyves’ Mutter kam darauf. Sie machte keinen Hehl daraus, dass sie Amicia gern fortgeschickt hätte, doch sie war eine lebenskluge Frau und führte keine Kämpfe, wenn sie auf verlorenem Posten stand. Deshalb schlug sie vor, den Crespins zu erzählen, Amicia sei ihre Base Abigail aus Oxford und habe als einziges Mitglied ihrer Familie einen Überfall überlebt. »In gewisser Weise entspricht das sogar der Wahrheit«, sagte Vyves traurig und drückte Amicias Hand.
Er lehrte sie, was sie wissen musste, um keinen Fehler zu begehen. Zeigte ihr, wie sie die Mesusa küssen und sich den Schleier binden musste. Machte in den rechten Ärmel ihres Kleides einen Riss – zum Zeichen der Trauer um einen Bruder.
Selbst als echte Jüdin hätte sie nach sieben Tagen nicht mehr sichtbar Trauer tragen müssen, geschweige denn nach zwölf Jahren, aber ihr gefiel es. Ihr Bruder war nicht begraben worden, sondern in einem Brunnen vermodert, verschwiegen, als hätte sie nie einen Bruder gehabt. Amicia hatte nie trauern dürfen, jetzt aber holte sie die Trauer nach, zeigte ihre verweinten Augen und ihr zerrissenes Kleid her und sprach mit Vyves über Abel. »War es nicht unglaublich, wie klug er war? Der Griechischlehrer hasste ihn, weil er ihn ständig verbesserte.«
»Und so klug, wie er war, so anständig war er – unsere Diebestouren in der Küche haben wir ihm wohlweislich verschwiegen.«
»Er wäre Priester geworden, nicht wahr? Ich fand, er sah schon ganz wie ein Priester aus.«
Vyves lächelte. »Ich bin nicht unbedingt der Mann, der sich mit Priestern auskennt. Aber ja – er konnte etwas, das nur wenige können, einerlei ob Juden oder Christen: allein sein mit Gott.«
Für kurze Zeit schien es, als hole sie sich in diesen Gesprächen ihren Bruder zurück, dann aber brach die Endgültigkeit des Verlustes mit solcher Gewalt über sie herein, dass sie nichts mehr konnte, als in Vyves Armen haltlos zu weinen. »Manchmal wünschte ich, ich wäre wirklich eure Base«, bekundete sie nach einem solchen Weinkrampf. »Ich würde so gern zu einer Familie gehören, aber meine ganze Familie war Abel.«
Ihre Blicke trafen sich. Meine ganze Familie war Abel. In diesem Satz lag eine Erkenntnis, die schwerer zu fassen war als alles andere: Hinter der Lösung des Rätsels um ihre Vergangenheit lauerten nur weitere Rätsel. Sie war ein Findelkind, mit ihrem ermordeten Zwilling vor einem Burgtor ausgesetzt worden. Wer ihre Eltern waren und warum die ihre Kinder nicht selbst aufgezogen hatten, würde sie nie erfahren.
»Am meisten wundert mich, dass Isabel uns aufgenommen hat«, erklärte sie Vyves eines Abends. Am Tage ging er seiner Arbeit nach und übernahm Botendienste, um das Geld für die zusätzliche Miete aufzubringen. Wie jeder gute jüdische Sohn aß er mit den Seinen zu Abend, doch danach kam er zu ihr, und sie redeten die halbe Nacht. »Hinter der Burg von Carisbrooke lag ein Nonnenpriorat, nicht wahr? Isabel hätte uns der dortigen Waisenpflege übergeben können, doch stattdessen hat sie uns wie Fürstenkinder umhegen lassen. Warum, Vyves?«
»Meine Mutter hat einmal erzählt, Isabel habe drei Kinder verloren«, erwiderte Vyves nachdenklich. »Vielleicht war sie froh, stattdessen euch zu haben, so wie meine Mutter, die nur ein einziges Kind durchgebracht hat, froh ist, sich um die kleine Rebecca zu kümmern.«
Amicia wusste, dass das Mädchen sein Zuhause bei einem Brand verloren hatte und bei Vyves’ Familie lebte, bis sein Großvater eine neue Bleibe fand. Aber war es denkbar, dass Isabel de Fortibus sie und Abel aus ähnlichen Gründen aufgenommen hatte? Die Vorstellung fiel schwer. Die Herrin der Insel und Vyves’ Mutter waren so verschieden, wie zwei Frauen nur sein konnten.
Vyves sah Amicia an, dass sie sich quälte, und versuchte, ihr zu helfen: »Sie hat euch geliebt, Amsel. Aus welchen Gründen auch immer.«
»War sie so?«, fragte sie ihn versonnen. »Eine Frau, von der man einmal denkt: Sie hat mich geliebt?«
»Sie war unnahbar«, gestand er zu. »Keine Frau wie meine Mutter, die die Arme ausstreckt, wenn sie ein Kind sieht. Aber erinnerst du dich, dass sie jeden eurer Lehrer, jedes eurer Bücher selbst ausgewählt hat? Und sie
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