Kains Erben
als spräche auf der Welt nichts dagegen. Alles, was du kannst, ist, sein Leben gefährden – und das von uns allen, einschließlich der Kinder, dazu.«
Amicia wusste keine Antwort. Deborah hatte recht. Dass sie blieb, war verantwortungslos, und der einzige Ort, an dem sie Vyves hatte heiraten können, war der Brunnenhof von Carisbrooke gewesen. Dafür waren vor vielen Jahren Menschen gestorben. Etwas Ähnliches durfte nie wieder geschehen.
Wäre es allein um sie gegangen, so hätte die Frage nach der Heirat keine Rolle gespielt. Amicia genügte, was sie besaß: einen Fetzen des mit Blut besiegelten Eheversprechens und ein von Adam de Stratton gestohlenes Schmuckstück als Morgengabe. Darüber hinaus war sie noch immer Amicia-ohne-Namen, die Amsel auf dem Feld, für die keine Heirat möglich war. Sie hätte so weiterleben können, einen Tag um den anderen, ein wenig wie eine Schlafwandlerin, die sich an einer schützenden Hand um jeweils einen Schritt vorwärtstastet.
Aber durfte sie Vyves zu einem solchen Leben verurteilen? Durfte sie ihm erlauben, die für seine Hochzeit ersparten Pennys für eine Reise nach Carisbrooke beiseitezulegen, von der sie nicht einmal wusste, ob sie sie jemals antreten würde? Sie hatte Vyves mit der kleinen Noya, der Tochter seiner Base, gesehen und gedacht: Er ist wie seine Mutter. Sobald er ein Kind sieht, breitet er die Arme aus.
Konnte sie einem Mann, dem man weithin ansah, wie sehr er sich nach Kindern sehnte, zumuten, auf solche Freuden zu verzichten? Und was bekam er von ihr für sein Opfer? Einen Berg zusätzlicher Kosten und Mühen, einen Rattenschwanz ungelöster Fragen und durchweinte Nächte ohne Schlaf. Erst gestern war ihr aufgefallen, dass sein Gesicht grau aussah und seine Augen in tiefen Höhlen lagen.
»Sagst du nichts dazu?«, fragte Deborah.
»Was soll sie denn dazu sagen?« Eine Stimme von der Tür her ließ Amicia zusammenzucken. »Was du ihr vorgegeben hast, ist ja nicht einmal wahr.«
Beide Frauen fuhren herum. Vyves’ Mutter Miriam stand in der Tür. »Sie kann Vyves heiraten, wenn sie will«, sagte sie ruhig. »Juden ziehen in Scharen ins Konvertitenhaus in der Chancery Lane, geben den Glauben ihrer Väter auf und werden Christen. Für Christen, die dasselbe tun wollen, gibt es kein Konvertitenhaus. Aber es ist nicht gänzlich ausgeschlossen, schon gar nicht für eine Frau, die eine Ehe mit einem Juden anstrebt.«
Deborah sprang auf. »Erklär mir bitte, was du damit sagen willst!«
»Dass Vyves ihretwegen mit dem Rabbiner sprechen könnte, wenn sie es wünscht«, erwiderte Miriam in unveränderter Ruhe. »Es würde lange dauern, und es wäre auch nicht einfach. Aber zwei Menschen, die einander heiraten wollen, haben in der Geschichte der Welt schon Härteres überwunden.«
Mit fliegenden Röcken lief Deborah zu der kleinen Frau, fiel vor ihr auf die Knie und klammerte sich an der Taille ihres Kleides fest. »Das kannst du nicht wollen, Miriam!«, rief sie. »Du weißt, wie lieb mir dein Sohn ist, du weißt, dass ich auf ihn gewartet habe wie Rachel auf Jakob und dass ich ihm eine gute Frau sein will, was immer uns bevorsteht. Wie kannst du wollen, dass er eine bekommt, die zu uns nicht gehört, die von uns nichts weiß und die unsere Wurzeln, wenn wir von hier fortmüssen, nicht mittragen kann?«
Miriam stand unbewegt. Sie, die die Kinder von Carisbrooke mit ihrer Herzlichkeit überschüttet hatte, berührte Deborah mit keinem Finger. »Was ich will, ist ohne Belang«, sagte sie. »Sogar das, was Vyves will, ist ohne Belang. Entscheiden kann allein Amicia von Carisbrooke, denn sie ist es, die den Preis zu zahlen hätte.«
Deborah bog den Oberkörper nach hinten und stieß einen gequälten Laut aus. »Weshalb nennst du sie so: Amicia von Carisbrooke? Das steht ihr nicht zu.«
»Du bist Deborah bat Oved«, sagte Vyves’ Mutter noch immer ohne jede Bewegung in der Stimme. »Und ich bin Miriam bat David. Das arme Mädchen hat keinen Vatersnamen, bei dem ich es nennen kann, also werde ich ihm wohl den Ort zugestehen dürfen, von dem es stammt.«
Deborah senkte den Kopf. »Aber sie bringt uns alle in Gefahr!«
»Auch das ist nicht ihre Schuld, sondern die der Umstände«, erwiderte Miriam. »Ich hätte um deinetwillen Gefahr auf mich genommen, also werde ich es auch um ihretwillen tun, wenn sie denn meine Tochter werden soll.« Mit einer kleinen Drehung befreite sie ihr Kleid aus Deborahs Händen und ging zwei Schritte weit aus dem Raum. »Versuch
Weitere Kostenlose Bücher