Kains Erben
an die Zeit, bevor du zu uns kamst, nicht denken magst …«
Amicia stockte. Woher wusste er das? »Weiter«, forderte sie. »Worüber wolltest du mit mir nicht sprechen?«
»Es sind neulich Männer bei Gideon im Geschäft gewesen und haben Fragen gestellt. Christliche Männer, die ein Mädchen suchten. Sie haben es Gideon beschrieben, und er ist sicher, sie meinten dich.«
Sie entzog sich und wich zurück. »Und das verschweigst du mir? Das behaltet ihr für euch?« Dann fiel ihr ein, dass auch sie ihm das Ereignis auf dem Markt hatte verschweigen wollen. Das Gefühl der Geborgenheit, das sie in dieser Kammer mit ihm immer empfunden hatte, die Spur von Frieden, zerbrach.
»Es tut mir leid«, murmelte Vyves.
Sie ging zu ihm, berührte seinen Arm. »Es ist nicht deine Schuld. Was hat Gideon den Männern gesagt? Weiß er, woher sie kamen?«
Vyves schüttelte den Kopf. »Er hat ihnen nichts gesagt, und er weiß nichts von ihnen. Vielleicht stellt sich das alles ja als Irrtum heraus, als eine Verwechslung, wie sie eben vorkommt.«
»Aber du glaubst es nicht?«
Statt einer Antwort legte er die Arme um sie und zog sie an sich. Einen Augenblick lang ließ sie sich fallen, wünschte sich, in seinen Armen sicher zu sein. Dann spürte sie seine Lippen auf ihren und erschrak so sehr, dass sie nach hinten sprang. Mit einer Hand betastete sie ihren Mund, als könne sie nicht glauben, was geschehen war.
»Verzeih mir!« Aus Vyves’ Ton sprach schiere Verzweiflung. »Amicia, verzeih mir, ich bitte dich …«
»Nein, nicht doch, du hast …«, stammelte Amicia, dann versiegte der Strom von sinnlosen Worten.
»Ich habe mich vergessen«, sagte er. »Es tut mir unendlich leid.« Damit ging er lautlos aus dem Zimmer und schloss hinter sich die Tür.
Ereignislose Tage verstrichen. Drüben, in der anderen Welt, begann ein neues Jahr. Amicia fand kaum noch Schlaf, und Vyves kam nicht mehr zu ihr, um sie mit seiner Ruhe und seiner Wärme zu trösten. Sie vermisste ihre Vertrautheit unsäglich. So kommt es, dachte sie, wenn einem vor lauter Angst, etwas auszusprechen, nur noch das Schweigen bleibt. »Wer Gründe hat, das Sprechen zu fürchten, hält das Schweigen nicht aus«, hatte Randulph ihr einmal gesagt.
Randulph hält das Schweigen selbst nicht gut aus, dachte sie und wunderte sich.
An einem der kältesten Abende hatte sie diesen Zustand satt und fing Vyves auf der Treppe ab. »Komm wieder zu mir«, sagte sie. »Kreide mir nicht an, was ich getan habe. Ich war durcheinander – ich bin es immer noch.«
»Ich kreide dir nichts an«, sagte er mit einem kleinen, verkniffenen Lächeln. »Ich schäme mich.«
»Dazu hast du keinen Grund«, versetzte sie. »Du hast mich zu dir genommen, ohne etwas dafür zu verlangen, aber du durftest wohl zumindest das kleinste Zeichen von mir für all deine Liebe erwarten.«
»Ich wollte gar nichts erwarten«, sagte er.
»Du bist nur ein Mensch, Vyves«, erwiderte sie und zog ihn hinter sich her in ihre Kammer.
Diesmal war sie es, die ihn küsste. Es war ein wenig seltsam und mit trockenen Lippen schwer, aber es fühlte sich gut und richtig an. Sie wollte nicht mehr allein sein, und sie wollte nicht, dass Vyves allein war. Auf einmal war der Gedanke, im neuen Jahr gemeinsam Chanukka zu feiern, viel erträglicher als der, noch einmal die Weihnachtsglocken einer Kirche zu hören, die ihr unerreichbar blieb. Vielleicht war es tatsächlich möglich, dass sie miteinander die Ehe eingingen, wie sie es im Brunnenhof von Carisbrooke gelobt hatten. Abel hatte Gott dafür um seinen Segen gebeten. Um Abels willen, für Vyves und für sich würde Amicia es auch tun.
Er riss sich von ihr los. Seine Augen funkelten. »Tu das nie wieder, Amicia!«
Sie sah, dass er über den Schultern seinen langen Tallit trug, den sie schön fand und in dem er würdevoll und fremd aussah. Entweder hatte er gebetet, oder er war unterwegs zum Gebet gewesen. »Was soll ich nie wieder tun?«
»Mich küssen, weil du glaubst, es mir schuldig zu sein. Mich behandeln, als hätte ich ein bisschen Gefälligkeit von dir verdient und nicht genug Stolz, um auf solche Gnade zu verzichten.«
»Aber das habe ich doch nicht getan!«
»Wahrhaftig nicht?« Sein Lächeln war kalt. »Dein ganzes Volk glaubt, mein Volk habe keinen Stolz, und wer weiß, vielleicht hat es dazu ja allen Grund. Und du hast auch allen Grund, denn du bist klug und weißt ohne Zweifel, dass ich alles täte, um dich haben zu dürfen. Dass ich auch ins
Weitere Kostenlose Bücher