Kains Erben
dass sie der Wunsch streifte, Randulph zu schreiben. Sie verwarf ihn wieder, aber sie war dankbar dafür, in diesem warmen, sicheren Haus auf den Winter warten zu dürfen, nicht als Getriebene in den Straßen und auch nicht allein. Deborah und Gideon mochten nicht glücklich über ihre Gegenwart sein, doch es war wie in Quarr: Sie alle begannen, sich an ihre Situation zu gewöhnen, und aus etwas, das es nicht geben durfte, wurde eine Tatsache.
Esther, Gideons Frau, die auf der Flucht ein totes Kind geboren hatte und sich davon nicht recht erholte, kam Amicia sogar ein wenig nahe. Die junge Frau quälte sich, weil sie den Übrigen so sehr zur Last fiel, und Amicia quälte sich, weil sie sich nirgendwo nützlich machen konnte. So ergab sich für beide eine Tugend aus der Not: Wie von selbst wurde es zu Amicias Aufgabe, Esther den Tag über zu versorgen.
In ihrer Verzweiflung hatte die Kranke sich Beschäftigung gesucht. Aus den Resten von Stoffen und Garn, die im Tuchhandel anfielen, nähte und stickte sie Kinderkleider. Wenn sie Esthers flinken Fingern an den winzigen Werkstücken zusah, wurde Amicia schwindlig, aber was sie fertigten, waren kleine Kunstwerke. Beim besten Willen konnte Amicia der Jüdin bei deren haarfeinen Handarbeit nicht behilflich sein, doch sie war mit Buchmalerei aufgewachsen, mit der Schönheit von Farben und Formen. Bald begann sie, Muster und Bilder zu entwerfen, die Esther auf die Kleider stickte.
Als Vyves zum ersten Mal ein solches Leibchen in die Hand bekam, war er hellauf begeistert. »Ihr schafft Kleider für die Kinderstube in König Salomons Palast, wisst ihr das?«
Sogleich bat er Samuel Crespin, einige der Stücke im Geschäft auslegen zu dürfen, und der Tuchhändler war einverstanden. Noch immer hatte er Kunden, die wohlhabend waren und große Häuser führten, und jeder jüdische Vater, so erklärte Vyves, wünschte sich, seine Kinder zu halten wie Prinzen. Sie verkauften die Kleidungsstücke im Nu und bekamen Aufträge für neue.
Esther blühte auf, weil sie sich nicht länger nutzlos fühlte, und eines Morgens, als Amicia zu ihr kam, war sie angekleidet und saß mit ihrer Näharbeit am offenen Fenster. Sie lächelte, als sie Amicias Verwunderung bemerkte. »Heute Abend musst du mit uns essen«, sagte sie, und dabei blieb es an allen Tagen, außer am Sabbat.
In Amicia war noch immer Unrast, doch sie war eingebettet in ein geregeltes Leben, zu dem sie zwar nicht gehörte, das sie aber innerhalb seiner Ordnung schützte. Anders als in Quarr aber hatte sie Vyves bei sich, der zu niemandem so sehr gehörte wie zu ihr.
Die Lage im jüdischen Viertel entspannte sich langsam. Seit dem Brand im Haus des Seifensieders, bei dem Vyves die kleine Rebecca gerettet hatte, war es zu keinem Übergriff mehr gekommen. Die Menschen schöpften Hoffnung, und das Leben quoll aus den Häusern wieder auf die Gassen.
»Die Londoner haben derzeit genug mit sich selbst zu tun«, berichtete Vyves. Es hatte Straßenkämpfe gegeben, Ausbrüche aus dem Gefängnis von Newgate und Skandale in der Stadtregierung, und jetzt, wo die Rückkehr des Königs aus Wales bevorstand, drohten strenge Sanktionen. »Diese Stadt hat sich seit Langem beinahe unabhängig regiert«, erklärte er. »Ob es den bisherigen Königen schmeckte oder nicht, ihnen blieb nichts übrig, als es zu dulden.«
»So wie auf der Isle of Wight!«, entfuhr es Amicia.
Vyves nickte. »Ein wenig ähnlich ist es, wenn auch aus anderen Gründen. Und König Edward ist keiner, der sich so etwas gefallen lässt. Zudem hasst er die Londoner, weil sie sich während des Baronenkriegs auf die Seite de Montforts gestellt haben. Es wird erzählt, sie hätten seine Mutter, die in ihrer Barke die Themse hinunterfuhr, abgefangen, sie beschimpft und mit faulem Obst beworfen.«
»Und das kann er ihnen nicht verzeihen?«, wunderte sich Amicia. »Aber die meisten der Menschen, die heute leben, waren damals doch noch Kinder!«
»Sie erben die Schuld ihrer Eltern«, erwiderte Vyves. »Ist es so nicht in der ganzen Welt?«
»Woher soll ich das wissen?«, fragte Amicia zurück. »Ich bin niemandes Kind. Vielleicht sollte ich anfangen, darüber froh zu sein. Zumindest habe ich niemandes Schuld geerbt.«
Kurz zog er sie an sich, dann gab er sie wieder frei. »Wenn du dich entscheiden würdest, meinen Glauben anzunehmen, würdest du dir die Schuld aufladen, die wir geerbt haben, Amsel.«
»Welche Schuld habt ihr geerbt?«
»Die an der Kreuzigung eures
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