Kains Erben
er wollte dir übel?«
Sie presste die Lippen aufeinander und nickte.
»Nun gut, ich werde Vyves nichts davon sagen«, versprach Deborah. »Aber wenn ein solcher Mann noch einmal auftaucht, müssen wir den Männern reinen Wein einschenken.«
Amicia zögerte. Dann nickte sie von Neuem. Den Rest des Heimwegs legten die beiden schweigend zurück.
Am Abend schienen Furcht und Missstimmung verflogen. Das Fest stand bevor, die Frauen breiteten ihre Schätze aus, und als beim Essen Wein herumgereicht wurde, nahm Esther den Kelch und verkündete: »Sprecht einen Segen und dankt Adonai. Die Last der Dunkelheit ist von uns genommen. Ich habe Gnade erfahren und erwarte wieder ein Kind.«
In den Folgetagen fiel mehr Schnee, und das erste Licht an der Menora, dem Chanukka-Leuchter, wurde angezündet. Obgleich die Crespins Amicia für eine der ihren hielten und in die Feier einbezogen, spürte sie eine Fremdheit, die sie von den Übrigen trennte. Am fünften Abend ließ sie sich entschuldigen, ihr sei nicht wohl, sie wolle sich niederlegen.
Kaum saß sie in ihrer dunklen Kammer auf dem Bett, vernahm sie ein Geräusch, von dem sie nicht gewusst hatte, wie sehr sie es vermisste. Glockengeläut. Durch Entfernung und Mauern gedämpft, aber unverkennbar.
Die Tür wurde lautlos aufgezogen.
»Woher kommt das?«, fragte Amicia, ohne sich umzudrehen. Erst jetzt bemerkte sie, dass ihr die Tränen liefen.
»Von der Kathedrale«, antwortete Vyves. »Man hört es, wenn der Wind gut steht. Es ist das erste Geläut zur Christnacht.«
Der Schmerz überfiel sie heftig und unverhofft. »Ich möchte dorthin, Vyves.«
Er trat ganz in den Raum und stellte die Kerze auf dem Boden ab. »Das verstehe ich«, sagte er traurig. »Aber es geht nicht.«
Die Glocken verstummten. Amicia sprang auf. »Ich komme zurück, Vyves, ich verspreche es – ich werde nicht versuchen, mich in die Messe zu schleichen, ich will nur dort stehen, während sie drinnen das Sakrament austeilen, nur die Kathedrale sehen und vielleicht noch einmal die Glocken aus der Nähe hören.«
»Ich verstehe dich wirklich«, sagte Vyves. »Wenn ich mir vorstelle, ich müsste stillschweigend anhören, wie Chanukka ohne mich gefeiert wird, dreht sich etwas in mir um. Gibt es keinen Weg, die Geburt deines Herrn hier zu feiern, Amicia? Ich täte alles, was in meiner Macht steht, ich brächte ein Kreuz in Samuel Crespins Haus, aber zur Kathedrale kann ich dich nicht lassen.«
»Warum nicht?«
»Die Londoner haben den Platz vor St. Paul von jeher benutzt, um sich zu versammeln, zu debattieren und Beschlüsse zu fassen. König Edward sieht darin einen Brandherd, den er bis auf das letzte Glutnest zerstampfen will. Er hat Befehl erteilt, die Gegend um die Kathedrale abzusperren und zu bewachen. Jeder, der das Gebiet betreten will, wird befragt und durchsucht.«
»In der Heiligen Nacht?«, rief Amicia. »Die Gläubigen, die kommen, um zur Geburt des Herrn die Messe zu hören, lässt er wie Strauchdiebe kontrollieren?«
»Vielleicht ist ja richtig, was er tut«, versuchte Vyves, sie zu beschwichtigen. »Es obliegt nicht uns, das zu beurteilen. Womöglich braucht England tatsächlich einen starken König, der es unter sich vereint, wenn es bestehen will. Viele jubeln ihm zu, weißt du? Sie feiern seine Siege in Wales und seinen Mut, den europäischen Herrschern entgegenzutreten. Sie sagen, die Bürgerkriege haben England im Inneren zerrissen, aber die neuen Gesetze schmieden aus den einzelnen Teilen eine starke Nation.«
Amicia hörte ihm schon nicht mehr zu. Sie nahm ihr Schultertuch und ihren Schleier vom Haken. »Ich will in die Kathedrale, Vyves. Wenn es anders nicht geht, sollen mich die Wachen durchsuchen. Ich habe nichts zu verbergen.«
»Wirklich nicht?« Vyves wies auf den Schleier in ihren Händen. »Ich verspreche dir, ich mache mich morgen auf die Suche nach einer Gemeindekirche, in der du beten kannst. Ich finde auch einen Weg, dich unbemerkt dorthin zu bringen; ich hätte wissen müssen, wie sehr es dir fehlt. Verzeih mir, Amicia. Und bitte – bleib heute Nacht in diesem Haus.«
Jäh vernahm sie die Furcht in seiner Stimme. »Hat Deborah mit dir gesprochen?«, riet sie ins Blaue.
»Deborah?« Er schüttelte den Kopf. »Nein. Weshalb sollte sie?«
»Weil dir die Stimme zittert«, erwiderte Amicia. »Weil du viel mehr Angst hast, als sich erklären lässt.«
Er trat vor und nahm ihre Hände. »Ich wollte nicht mit dir darüber sprechen, ich weiß, dass du
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