Kains Erben
sandte ihm einen funkelnden Blick. »Wie lange wolltet Ihr mich eigentlich noch meiden, Mylord? Oder ist eine, die sich mit Juden herumtreibt, schlicht kein Umgang für Euer Hochwohlgeboren?«
Sichtlich empört wollte er zu Protest ansetzen, doch kein Wort war stark genug. Geschlagen warf er die Arme um sie und verschloss ihr die Lippen mit seinen.
Die Erlösung war grenzenlos, sie war eine Woge, die Amicia mit sich riss. Alle quälenden Fragen verstummten vor Haut, Fleisch und Körperwärme, vor dem Geschmack des Geliebten, dem Duft seines Haars, der zärtlichen Ungeduld seiner Hände, vor seinen tiefen Atemzügen und vor seiner Umarmung, die sie vor der ganzen Welt beschirmte. Die Gier, mit der er sie küsste, verriet Amicia den Hunger, mit dem er sich nach ihr verzehrt hatte. Sie wollte ihn prassen lassen und gab ihm für jeden Kuss, den er sich nahm, zwei weitere dazu.
Als sie innehalten und Kraft schöpfen mussten, senkte er den Kopf und vergrub ihn an ihrem Hals. »Ich halte das nicht aus«, stöhnte er, während sie ihm den Nacken streichelte.
Sie hielt es auch nicht aus. Es war bitterkalt, und doch wollte sie ihm die Kleider herunterreißen und ihm das Salz von der Haut küssen.
»Ich bin nicht gut darin, mich zu schämen, Amicia. Und ich habe mich noch vor keinem Menschen so sehr geschämt wie vor dir.«
»Und du bist sicher, es genüge nicht, Verzeih mir zu sagen?« Mit zwei Fingern streichelte sie ihm die Wange – das versprochene Zeichen dafür, dass sie ihm nichts Böses wollte. »Warum versuchst du es nicht? Vielleicht bin ich nicht gar so streng, wie du glaubst.«
Und vielleicht hast du mir auch etwas zu verzeihen, fügte sie im Stillen hinzu. Hätte er ihr gestanden, einer Frau so nah gewesen zu sein, wie sie Vyves nah gewesen war – sie hätte ihm sein schönes Gesicht zerkratzt und der Frau den Hals umdrehen wollen.
»Nein, es genügt nicht«, beharrte er verzweifelt. »Es ist unverzeihlich, und ich kann es dir nicht sagen.«
»Dann wirst du armer Mann wohl mit der Scham leben müssen.« Sie reckte sich und biss ihm in den Hals. »Denn darauf, dass ich die Finger von dir lasse, mach dir keine Hoffnungen – einerlei, was du sagst oder verschweigst. Geh mit mir ins Lagerhaus, Matthew. Such einen Winkel, in dem wir ungestört sind, damit ich dich lieben kann, bis dir Hören und Sehen vergeht.«
»Und was ist mit Herrn Vyves?« Er warf den Kopf auf und blickte ihr mit einem Zug von Trotz in die Augen.
An der Frage war im Grunde nichts Komisches, und dass sie dennoch auflachte, war geradezu herzlos. »Was ist das denn, Mylord? Nicht etwa Eifersucht?«
»Doch«, erwiderte er ehrlich. »Und wenn ich hundertmal kein Recht darauf habe.«
»Gib dich geschlagen, und komm«, sagte sie und zupfte ihm am Ohrläppchen. »Das böse Ding, auf das du kein Recht hast, treibe ich dir aus.«
Das Lagerhaus glich dem Bau eines Tieres und bot zahllose Gänge und Nischen. Matthew machte ihnen auf Stroh und Decken ein Lager zurecht, in einem Winkel verborgen und doch vom Feuer nicht allzu weit entfernt. Dennoch kühlte die entblößte Haut rasch aus und musste warmgeliebt werden, wie der Blutstrom unter ihr durch Küsse und Bisse zum Kreisen gebracht werden musste. Sie hatten kein Licht und mussten sich die Schönheit des anderen ertasten.
Amicia genoss es, über jede Linie, in die sie verliebt gewesen war, aufs Neue in Verzückung zu geraten. Die geraden, sehnigen Schultern, die sich abzeichnenden Schlüsselbeine, der muskulöse Rücken, in den die Wirbelsäule eine Rinne grub, die verblüffend schmale Partie von Taille und Hüften. Matthews Hinterbacken waren geradezu unverfroren hübsch, die Beine lang, und die Narbe, die den Schenkelmuskel teilte, rief eine zärtliche Erinnerung wach. Über seine Fesseln musste sie lachen. Sie hätten einem grazilen Tänzer gestanden, nicht diesem Bollwerk aus Kraft.
Weshalb berührt ein einzelner Mensch uns mehr als alle anderen, fragte sie sich. Weil Gott ihn schöner gestaltet, in seine Schöpfung mehr Liebe gelegt hat? Sie schreckte vor dem blasphemischen Gedanken nicht zurück. Die Frage bedurfte keiner Antwort, denn in diesem einen Menschen erkannte sie die Liebe, mit der Gott seine Geschöpfe gestaltet hatte, und damit war es gut und genug.
Die frischen Narben an seinen Handgelenken ertastete sie erst, als sie sich müde getobt hatten und die sachte Hälfte der Liebe genossen: aneinandergeschmiegt, in Decken gewickelt, sein entrücktes Liebeswispern nah an
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