Kains Erben
»Und du kennst doch Gideon – England ist die Heimat seiner Väter. Er will, dass es die Heimat seiner Kinder bleibt.«
»Ich rede ja nicht von Gideon«, sagte Deborah. Ihre Hand strich ihm den Rücken hinunter. »Ich rede von dir. Dass Gideon seine Familie nicht verpflanzen will, erfüllt mich zwar mit Sorge, aber ich kann es ihm immerhin nachfühlen. Du hingegen hast nichts, das dich hält, nur deine Mutter, die froh wäre, wenn du euch in Sicherheit brächtest.«
Noch immer starrte Vyves in das leere Zimmer, als erwarte er von dort eine Antwort. »England ist auch meine Heimat, Deborah …«
»Wem willst du das einreden, dir oder mir?«, fuhr sie ihn an. »Ausgerechnet du, der immer vernünftig war und sich ins Notwendige gefügt hat. Du bist nicht hier, weil irgendein Ort auf der Welt deine Heimat ist, außer vielleicht jene Burg auf der Insel, die du keinen Tag lang vergessen hast. Du bist hier, weil du auf etwas wartest, das vermutlich nie geschehen wird. Du wartest seit viereinhalb Jahren. Glaubst du, ich bemerke das nicht? Glaubst du, weil auch ich mich ins Notwendige gefügt und einen wundervollen Mann geheiratet habe, verliere ich aus den Augen, wie es dir ergeht?«
Wie so oft packte ihn sein Gewissen. »Deborah, du sollst nicht …«, begann er, doch sie winkte mit einer Hand ab. »Was ich soll, lass meine Sorge sein. Ich habe es so gut getroffen, wie eine Frau es sich nur wünschen kann, und um mich braucht niemand zu fürchten. Aber um dich. Du zerstörst dich, Vyves. Du hast in all der Zeit keinen Stein auf dem anderen gelassen, um herauszufinden, was Amicia, dir, euren Freunden und diesem dämonischen Ritter vor all den Jahren tatsächlich widerfahren ist. Und was hast du in Erfahrung gebracht? Dass deine Liebste, für die du dein Volk und deinen Glauben aufgegeben hättest, nicht dich, sondern einen anderen geliebt hat, dass der andere sie auf bestialische Weise verraten hat und dass sie jetzt in einem Kloster lebt, das vermutlich der beste Ort der Welt für eine Christin ist, die ein solches Schicksal ertragen muss. Sie hat einen Weg gefunden, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und weiterzugehen. Wäre es nicht an der Zeit, dass du dasselbe tust?«
Vyves’ Hand schloss sich mit aller Kraft um den kleinen Stein. Alles, was Deborah gesagt hatte, entsprach der Wahrheit. Mit geduldigen Fragen hatte sie ihm manches entlockt und sich anderes erschlossen. Lediglich eines war falsch, und Vyves hätte es richtigstellen müssen. Dafür, dass er es nicht tat, schämte er sich nicht zum ersten Mal. »Ich habe ihr versprochen zu warten«, erklärte er stattdessen lahm. »Als ihr Freund, Deborah. Nicht als der Mann, der sie heiraten wollte. Es ist noch immer möglich, dass sie mich eines Tages braucht, um zurück zur Insel zu reisen und den Rest zu erfahren. Ich habe ihr gesagt, wenn es so weit ist, soll sie mir Nachricht senden, und ich will nicht, dass sie es irgendwann tut, und ich bin nicht mehr da.«
»Ist es denn gut, den Rest zu erfahren?«, fragte Deborah. »Hat sie nicht Grausamkeit genug zu verkraften?«
»Das zu entscheiden obliegt allein ihr«, erwiderte Vyves.
»Und wenn ihr diese Reise gemacht habt oder sie dich wissen lässt, dass sie sie nicht mehr wünscht – wirst du dann gehen können?«
So weit hatte Vyves nie gedacht. Seine Gedanken waren immer nur bis zu dem Punkt vorausgeeilt, an dem er Amicia wiedersah. Zu den Fragen, die sie ihm stellen würde, und den Antworten, die er ihr nicht geben wollte.
Von der Straße drangen die fröhlichen Rufe der Kinder hinauf, für die der Umzug nicht mehr als ein großes Abenteuer darstellte, bei dem ihnen im Schutz ihrer Eltern nichts geschehen konnte. Gewiss ohne es zu bemerken, wippte Deborah mit dem Fuß.
»Ja«, antwortete Vyves hastig. »Wenn ich eines Tages weiß, dass Amicia mich hier nicht mehr braucht, kann ich gehen. Und deinen Bruder und seinen Haufen bringe ich dir mit. Wir sehen uns wieder, Deborah. Ganz bestimmt.«
Sie wandte ihm ihr tränenüberströmtes Gesicht zu, und er zog sie in die Arme.
»Gott schütze dich, Vyves. Ich wünschte, ich könnte dir helfen.«
»Das könntest du«, entfuhr es ihm, ehe er sich hindern konnte.
Sie blickte auf.
»Wenn du in Dover jemanden fändest, der einen Brief bestellen würde …«
»Vyves!«, rief sie geradezu entsetzt.
Er hatte nicht darüber nachgedacht, aber jetzt schien es ihm das einzig Mögliche zu sein. Er würde den Stein mit einem Brief übersenden – mit ein
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