Kains Erben
paar Zeilen, die Amicia wissen ließen, dass er noch immer in London lebte, wenn auch in einer anderen Straße, und dass er noch immer bereitstand, wann immer sie ihn brauchte. Als ihr Freund. Nicht als der Mann, der sie im Alter von zehn Jahren hatte heiraten wollen und der es im Alter von bald dreißig nicht minder wollte. »Bitte, Deborah«, sagte er. »Finde einen christlichen Boten, stell sicher, dass niemand auf den Absender schließen kann.«
»Und selbst wenn mir das gelingt, was mir ein mittleres Heldenstück zu sein scheint – einer Ordensschwester wird man auch den Brief eines Christen kaum zustellen.«
Vyves stockte. Sooft er an Amicia dachte, es war ihm nie möglich, sie sich als Ordensschwester vorzustellen. Sie war seine Amsel gewesen, sie hatte vor Leben gebebt und war auf jeden Baum und jede Mauer gestiegen. Hinter die fest verschlossenen Tore eines Klosters schien sie nicht zu gehören, auch wenn Vyves gern an den Frieden, die Ruhe und den Schutz dachte, die sie dahinter umfingen. Damals, auf Carisbrooke, hatte er sagen hören, ein zisterziensisches Kloster sei ein stilles Torhaus zum Himmel. »Wenn sie das Gelübde abgelegt hat und im Orden bleibt, braucht sie den Brief nicht mehr«, zwang er sich endlich, Deborah zu antworten.
»Und dann packst du die Horde, die da unten lärmt, ein und kommst uns nach, ehe sie euch alle aufhängen, ausräuchern, kreuzigen oder was ihnen sonst einfällt?«
Er zog sie wieder an sich und meisterte sogar ein Lächeln. »Ich verspreche es.«
»Gut«, sagte sie und befreite sich. »Dann gib mir den elenden Brief, damit es nicht Nacht wird, ehe wir hier wegkommen.«
Er hatte ihn noch nicht einmal geschrieben, aber er rannte schon los, um aus der letzten verbliebenen Truhe irgendetwas zutage zu fördern, auf das sich schreiben ließ. »Deborah, du weißt nicht …«, rief er über die Schulter zurück, aber sie unterbrach ihn. »Doch, doch, ich weiß. Und wie es sich anfühlt, ins Leere zu lieben, weiß ich auch. Aber es gibt ein Leben darüber hinaus, Vyves, vergiss das nicht. Und es gibt Menschen, die dich lieben, auch wenn dieser eine es nicht tut.«
»Danke«, sagte Vyves und meinte es aufrichtig. Er wusste jetzt, was er Amicia in den Brief schreiben wollte: Es gibt ein Leben darüber hinaus, vergiss das nicht. Und es gibt Menschen, die dich lieben, auch wenn es dieser eine nicht getan hat.
Dass daran schon wieder eine Einzelheit falsch war, würde er in Kauf nehmen, schließlich war bis zu Deborahs Aufbruch kaum noch Zeit.
34
D
ie Glocke war leise. Sie war an der Decke der Kapelle befestigt, und man musste die Ohren spitzen, um sie überall auf dem Gelände zu hören. Aber das war gut so. Es zwang die Schwestern, auf leisen Sohlen zu gehen, das Gelübde des Schweigens zu halten und beständig zu lauschen. Die Glocke zu vernehmen war eine Wohltat. Sie rief zum Stundengebet und zur Messe, die ein Priester aus Fountains Abbey einmal am Tag zelebrierte. Es war gut, gerufen zu werden. Sich zu erinnern: Selbst ich werde irgendwo erwartet, auch wenn mich keiner beim Namen nennt.
Ihren Namen hatte Amicia abgelegt. Hier, in der kleinen Priorei unter den Fittichen der machtvollen Abtei von Fountains, nannten sie sie Agatha, weil ihr Name, der Freundschaft bedeutete, zu weltlich für das Klosterleben war. War Freundschaft weltlich? Amicia war es gleichgültig. Sie war im Haus eines jüdischen Kaufmanns Abigail gerufen worden und jetzt eben Agatha – was machte das für einen Unterschied? Dennoch dachte sie manchmal an das, was die Novizenmeisterin, die zugleich Priorin der Gemeinschaft war, zu ihr gesagt hatte, als sie sie damals vor dem Torhaus von Fountains abgeholt hatte. Es hatte in Strömen geregnet, und Stephen, der wie sie bis auf die Haut durchnässt gewesen war, hatte der Nonne ihren Namen genannt. Zum letzten Mal. »Amicia.«
»Das ist ein schöner Name«, hatte die Nonne gesagt und eine Plane über Amicias Kopf gehalten. »Meine Mutter hieß so.« Sie hatte ihr das Leben gerettet, die kleine, gedrungene Frau, die die beiden Novizinnen der Priorei betreute und von jenem Tag an auch Amicia-Agatha. Mit Ruhe und Klugheit hatte sie sie ins Leben zurückgepflegt.
Auf dem Weg nach Fountains hatte Amicia sterben wollen. »Lass mich einfach liegen«, hatte sie zu Stephen gesagt. »Lass dich von mir nicht aufhalten, ich werde froh sein, wenn ich das Leben nicht mehr ertragen muss.«
»Das darfst du nicht«, hatte der junge Mann, der mit seinem verletzten
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