Kains Erben
einträglichen Tag – Grund genug, darauf zu trinken.«
»Gesegnet sei deine Klugheit, Schwesterchen!«, jubelte Gideon und griff nach einem Becher. »Der Tag war ordentlich, ja? Nun, auf dem Markt war es so übel auch nicht – vielleicht bricht ja mit dem Neujahrsfest eine bessere Zeit für uns an. Schließlich ist England unsere Heimat. Unsere Vorfahren haben in Freundschaft und Achtung mit den Christen gelebt, warum sollte uns nicht dasselbe gelingen? Trinken wir auf unsere Familie, die gedeiht und sich mehrt. Auf mein süßes Söhnchen, das im Leib meiner Esther schläft, und auf Vyves, den Zauderer, der uns eine Eröffnung machen will.«
Die Blicke der Frauen trafen Vyves wie Nadelstiche, der Deborahs spitzer als die übrigen.
Gideon hob seinen Becher und trank. Mit der freien Hand riss er sich den gelben Fetzen von der Brust. »Meine kleine Noya, mein Zicklein am Gebirge Gilead, dein Vater ist ein ehrbarer Bürger Windsors wie sein Vater vor ihm. Und dein Bruder – Adonai sei Dank für ihn! – wird ebenso ein ehrbarer Bürger von Windsor sein.«
»Was tust du denn?«, rief Esther erschrocken. Noch hatte keiner von ihnen den Riegel vorgelegt und das Gasthaus geschlossen, und wer das gelbe Zeichen in der Öffentlichkeit nicht trug, konnte auf der Stelle verhaftet werden. Von denen, die verhaftet wurden, kamen nur wenige wieder. Auch Vyves’ Vater war nicht wiedergekommen. Man hatte ihm, der als privater Bankier der reichsten Gräfin des Landes gedient hatte, vorgeworfen, er habe vom Rand der Silbermünzen Späne gefeilt, um sich daran zu bereichern. Adam de Stratton, der die verbliebenen Schuldscheine zu einem Spottpreis aufgekauft hatte, hatte zu Vyves’ Mutter gesagt, sie könne froh sein, dass man den Vater nur gehängt habe, denn wer sich an Silbermünzen mit dem Bild des Königs vergreife, beginge Hochverrat und könne weit härter bestraft werden.
Was dieses »weit härter« bedeutete, hatte König Edward bewiesen, als er den einstigen Herrscher des walisischen Reiches als Hochverräter hinrichten ließ: Dafydd ap Gruffydd war am Schweif eines Pferdes durch die Straßen von Shrewsbury geschleift, sodann aufgehängt, bei lebendigem Leib vom Galgen geholt und zum Schluss kastriert und gevierteilt worden. Es sah aus, als bestrafe Edward das Land Wales in seinem Fürsten noch einmal dafür, dass es sich im Bürgerkrieg auf die Seite der Barone und damit gegen die Krone von England gestellt hatte.
Wofür genau er die Juden bestrafte, war weniger leicht zu durchschauen, doch für einen Herrscher, der keine Rechnung offen ließ, boten sie vermutlich den perfekten Sündenbock. Vyves und seine Mutter hatten also froh zu sein, dass ihr Mann und Vater nur getötet, nicht in Stücke gerissen worden war. England unter König Edward mochte ein prächtiges Land sein, um darin zu leben, wenn man weder als Waliser noch als Abkömmling der Rebellenbarone, schon gar nicht aber als Jude zur Welt gekommen war. »Steck dir das Ding wieder an den Kittel!«, herrschte er Gideon an.
Der Freund fuhr so verblüfft herum, dass der Wein in seinem Becher schwappte. Im nächsten Augenblick flog die Tür auf und prallte krachend gegen die Wand. Sofort war klar, dass die Männer, die den Türrahmen ausfüllten, keine verspäteten Gäste waren. Sie trugen die roten Schecken und die Lanzen der Garde des Constables. Ihr Befehlshaber zog ein kurzes Schwert aus der Scheide. »Gideon fil Oved?«, fragte er Vyves und hob das Schwert, als wäre es ein Verbrechen, so zu heißen.
Gideon warf den Becher von sich, dass der blutrote Wein über die Dielen spritzte. Mit einem Schritt stand er vor den Männern. »Gideon fil Oved bin ich«, verkündete er stolz. »Womit kann ich dienen?«
»Ist das hier dein gesamter Haushalt, Jude?« Mit seinem Schwert beschrieb der Mann den Raum. »Zwei arbeitsfähige Männer, drei Weiber, ein Balg, richtig?«
»Meine Tochter ist kein …«
»Halt den Mund, und pass auf!«, verwies ihn der Mann. »Ihr habt dieses Haus zu räumen und die Stadt zu verlassen. Der Constable gibt euch Zeit bis zum Einbruch der Dunkelheit, danach will er in Windsor keinen Juden mehr sehen. Wer sich trotzdem innerhalb der Stadtmauern herumdrückt, wird festgenommen.«
»Habt ihr Kerle den Verstand verloren? Ihr verbietet uns zwar, Häuser zu kaufen, aber ihr könnt uns nicht die nehmen, die wir mit Fug und Recht besitzen. Mein Urgroßvater hat dieses Haus gekauft!«
Vyves sah, wie Gideon sich aufrichtete, wie er die
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