Kains Erben
nicht, mit der Verantwortung für die Insel allein zu sein. Sie hatte sich diese Verantwortung gewünscht, und seit sie sie erlangt hatte, war sie ihr gerecht geworden. Als Isabel de Redvers war sie vor bald einem halben Jahrhundert auf der Insel geboren worden. Zwölf Jahre lang hatte sie hier, auf der Turmhügelburg von Carisbrooke, aufwachsen dürfen wie in einer Schachtel, die die Schönheit der Welt vor Schmutz und Bosheit bewahrte. Freundinnen hatte sie nie gehabt. Dafür hatte sie Baldwyn, ihren Bruder. Zuweilen spielte auch der ruppige Sohn des Stallmeisters mit ihnen, und eine winzige Schwester gab es obendrein, doch die störte und langweilte nur, und im Grunde waren sie einander genug. Der frühe Tod des Vaters und die Kälte der Mutter schmerzten, aber der Schmerz war erträglich, weil sie und Baldwyn ihn teilten. So wie sie alles teilten: Furcht und Glück und Träume.
Bis die Männer von William de Fortibus, des Grafen von Albermarle, gekommen waren, um Isabel fortzuholen. Sie war zwölf Jahre alt, und ihre Mutter hatte sie verkauft wie eine zuchtreife Kuh. Aus den Armen ihres Bruders wurde sie zur Trauung und alsdann ins eisige Yorkshire verschleppt. In der Einsamkeit, die sie dort durchlitt, gefror ein Stück ihres Herzens.
Mit dreiundzwanzig war sie Witwe und Mutter von fünf halbverwaisten Kindern. Ihrem Wunsch, auf die Insel zurückzukehren, schob die Familie ihres Mannes einen Riegel vor. In Briefen rief sie Baldwyn um Hilfe: »Hol mich nach Hause. Ich erfriere hier.«
Er vertröstete sie. Seine Lage war schwierig. In den Unruhen, die dem zweiten Baronenkrieg vorausgingen, geriet er zwischen die Fronten. Isabels sanfter Bruder machte sich Feinde in beiden Lagern, weil sowohl Königstreue als auch Rebellen die unschätzbare Insel für sich gewinnen wollten. »Hab noch ein wenig Geduld«, schrieb Baldwyn ihr. »Wenn das alles vorüber ist, hole ich dich nach Hause. Dann sind wir wieder zusammen und bleiben auf unserer Insel, bis wir sterben.«
Es sollte nie alles vorüber sein, und Baldwyn blieb nicht auf seiner Insel, bis er starb. Er starb im Haus seines Schwagers, wo er versuchte, zwischen verhärteten Fronten zu vermitteln und zu verhindern, dass England in einem weiteren Bürgerkrieg Blut ließ. Ob der Schwager, der den Rebellen angehörte, oder ein königstreuer Gast ihm Gift in den geliebten Sizilianerwein geträufelt hatte, wurde nie bekannt, doch Isabel war sicher, es zu wissen. Als sie vom Tod des Bruders erfuhr, wuchs der Eisklumpen in ihrem Herzen, bis sie das Herz nicht mehr spürte.
Lange glaubte sie, ihr sei nichts geblieben und sie habe auf der Welt nichts mehr zu tun. Erst als laut wurde, dass der König nach der Insel griff, weil ihr Bruder kinderlos gestorben war, erwachte sie aus ihrer Starre. Die Insel war Baldwyns Erbe. Wenn es irgendwo Spuren seines Lebens gab, dann dort, am Strand des Solent, und an diese Spuren durfte kein König Hand anlegen. Es war das uralte Recht der de Redvers, die Insel wie ein eigenes Reich zu regieren, und es erlosch nicht, solange ein de Redvers lebte. Der letzte de Redvers war nun sie – eine Frau nur, doch sie besaß einen Sohn und ein Recht. Henry iii. widersetzte sich, aber er war ein schwacher König und hatte andere Sorgen, sodass sein Widerstand rasch gebrochen war. So kehrte Isabel als Herrin auf die Isle of Wight und auf die bewaldete Motte von Carisbrooke zurück.
Drei Kinder waren ihr inzwischen gestorben, doch Isabels Herz war noch immer ein Eisblock, an dem jeglicher Schmerz zerschellte. Sie fürchtete keine Einsamkeit, sie wollte nichts als ihre Insel bewahren. Alles ließ sich gut an. Sie hatte eine Hand für die Verwaltung, und der Wohlstand der Insel mehrte sich. Sie ließ ihre Burg Carisbrooke aufs Prächtigste ausbauen und wählte einen Raum im Donjon als Gemach, um dort mit der Vergangenheit allein zu sein. Der Raum hatte ein Fenster zur Nordseite der Motte, von hier sah sie die Weiden in der Ebene und die um den Fluss geschmiegte Stadt Newport. Vor das Fenster, an dem Baldwyn so gern gesessen hatte, ließ Isabel zwei steinerne Sitze mauern. Sie legte wärmende Felle aus und gab eine Vergrößerung des Kamins in Auftrag, denn Baldwyn hatte Wärme geliebt. Hier saß sie an stillen Abenden, trank Wein aus Sizilien und genoss es, nichts zu fühlen als Ruhe und das Streicheln ferner Erinnerung.
Es hätte so bleiben können. Aber es blieb nicht so. Einer war noch da, der in ihre Vergangenheit gehörte, und der brachte ihren
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