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Kains Erben

Kains Erben

Titel: Kains Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Lyne
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verborgen hältst, dass du ihnen deine Tür verschließt – auch denen, die um Almosen bitten. Es ist wichtig, dass du diese Anordnung befolgst, Amsel. Lebenswichtig. Hast du das verstanden?«
    Amicia gab keine Antwort, und der Abt erwartete keine.
    »Ich bringe dich jetzt zurück. Matthew bedarf deiner Pflege. Übrigens war es um des Buches willen, dass ich dich herbat, ich wollte es nicht durch den Regen tragen. Es gehört dir, Amsel. Ich habe es für dich bewahrt. Näh ihm eine lederne Schutzhülle, und nimm es mit, wenn du die Insel verlässt.«
    Ich will es nicht!, wäre es ihr um ein Haar entfahren. Die Vorstellung, das Schreckensbild bei sich zu tragen, ließ sie von Neuem schaudern. Dann aber fiel ihr etwas anderes ein: Eine so reich illustrierte Abschrift war selten und wertvoll. Weshalb gehörte ihr, einem Findelkind, dem weiblichen Zögling von Zisterziensern, den es im Grunde nicht geben durfte, eine solchen Kostbarkeit? Bisher hatte sie nie etwas anderes besessen als den Stein an ihrem Hals, von dem sie auch nicht wusste, wie sie an ihn gekommen war.
    Sie behielt die Frage für sich, denn sie hatte für den einen Tag genug und sehnte sich nach ihrem Haus. Jedes Glied war ihr schwer, als sie aufstand. »Ihr braucht mich nicht zu begleiten. Ich finde meinen Weg auch so.«
    »Du weißt, dass ich dich begleiten muss«, erwiderte Randulph.
    »Warum?«, gab sie scharf zurück. »Weil ich die Ruhe Eurer Schutzbefohlenen störe, ihre teure Nähe zu Gott? Ist diese Nähe so leicht zu erschüttern, dass ein bedeutungsloses Mädchen genügt?« Nichts davon hatte sie sagen wollen, aber ihr ganzes Wesen fühlte sich wund an, und die Schorfschicht darüber so dünn, dass sie bei der kleinsten Erschütterung aufbrach.
    »Gehen wir«, sagte Randulph. »Ich wünsche, dass du morgen nach den Laudes zur Kapelle kommst und vor Prior Francis die Beichte ablegst.«
    »Nehmt Ihr sie mir nicht selbst ab?«
    Der Abt war ihr bereits vorausgegangen. »Ihr habt mich gehört«, sagte er, ohne sich nach ihr umzudrehen.
    In ihrem Haus wartete Magdalene, die auf sie zusprang, als wollte sie ihr das Gesicht zerkratzen. »Du hast meinen Herrn Matthew allein gelassen! Ich habe dir gehorcht, weil du versprochen hast, ihn zu pflegen, aber du bist einfach deiner Wege gegangen, derweil er hier hätte sterben können.«
    Amicia befreite sich ebenso heftig, wie Randulph sich im Skriptorium von ihr befreit hatte. »Dein Herr stirbt, wann es Gott gefällt«, beschied sie kalt. »Ob ich hier bin oder nicht, macht keinen Unterschied. Geh in den Verschlag zu deinem Gefährten. Ich will allein sein.«
    »Aber mein Herr Matthew …«
    »Ich habe gesagt, du sollst gehen!«, schrie Amicia.
    Der Hund sprang auf, und Amicia erschrak vor ihrer eigenen Stimme. Ehe sie sich entschuldigen konnte, streichelte die Kleine ihrem Herrn verstohlen den Arm und schlich mit hängendem Kopf aus der Tür. Schuldbewusst und erleichtert zugleich ließ Amicia sich auf einen Schemel fallen und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Gleich darauf spürte sie die raue Zunge des Hundes auf den Fingern und musste unter Tränen lachen. »Ach, Hund. Du kannst nicht verstehen, warum mir so viel an einem Ort liegt, oder? Du hast ja einen Menschen, zu dem du gehörst. Ein Mensch bedeutet dir mehr als ein Ort.«
    Hatte sie je einen Menschen gehabt? Das Bild von Thomas à Becket fiel ihr ein, und ihr Magen krampfte sich zusammen. Sie wollte heute an nichts mehr denken, nur noch ihre Arbeit verrichten und hoffen, dass sie zeitig schlafen konnte.
    »Versorgen wir deinen Herrn, Hund?« Sie drehte sich zu dem Verletzten um und erschrak so sehr, dass sie bis an die Wand zurücksprang. Der Mann war wach. Zwei schwarze Augen, das eine verschwollen, das andere klar, sahen ihr ins Gesicht. Magdalene!, wollte sie rufen, doch nicht einmal ein Krächzen wurde laut, und in der Stille hämmerte ihr Herz.

6
    I
ch muss gehen, meine Liebste.«
    Milchiges Mondlicht fiel durch den Fensterspalt und verlieh dem Haar des Mannes einen seidigen Schimmer. Gedankenverloren strich Isabel über den Flaum aus schwarzen und grauen Stoppeln. Sie fürchtete den Tag, an dem ihm einfallen würde, ihn zu scheren, denn das Haar, das über der kahlrasierten Stelle wucherte, stand für die Zeit, die er vor der Welt verborgen hinter den Mauern ihrer Burg verbrachte. Wenn er sein Messer wetzte, um unter dem Geliebten den Kleriker hervorzuschälen, war es Zeit zum Aufbruch, und sie wäre wieder allein.
    Es schreckte sie

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