Kains Erben
Rinnsal spuckte sie ein Stück von einem Backenzahn aus. Ehe sie den Kopf zur Seite werfen konnte, traf die Faust sie erneut.
Ich werde nichts sagen, beschwor sich Magdalene. Und wenn sie mich totschlagen. Ich werde nichts sagen.
»Was ist denn so schlimm daran, mit uns zu sprechen?«, fragte der Bärtige. »Hat es dir jemand verboten – das bewusste Mädchen etwa oder einer von den Mönchen?«
»Es gibt kein Mädchen!«, rief Magdalene und hielt sich den schmerzenden Kiefer. »Ich jedenfalls weiß von keinem.« Sie hätte gerne noch mehr gesagt – dass sie von einem Ritter auch nichts wusste und dass bei all dem Schnee kein Besucher mehr kam –, doch ihr Gesicht schien vor Schmerz verzerrt zu sein und schon die wenigen Worte waren kaum verständlich gewesen.
»Willst du dir das nicht noch einmal überlegen?«
Bevor sie antworten konnte, traf die Faust ihr Auge. In der Schwärze tanzten Funken, und ihr wurde übel. Ich sage nichts!, schrie sie sich wortlos zu. Ich gebe meine Familie nicht preis.
Einer der Männer riss ihr den Kopf an den Haaren nach hinten. Vor ihr baute sich der Bärtige auf und klopfte sich mit dem Messer in die Handfläche. Magdalene sah mit einem Auge die Klinge an und dachte daran, wie schön das Leben war. Wie gern sie noch einmal ein Weihnachten erlebt hätte, den Priester, der ihr den Leib des Herrn auf die Zunge legte, und das Essen mit ihrer Familie! Sie schloss das eine Auge, das noch sah. Gleich darauf ertönten draußen unter dem Pfeifen des Windes Hufschläge.
Mit leisem Aufprall sprang ein Mann vom Pferd. Eine der Zeltplanen am Eingang wurde aufgeschoben, und das von Kälte gerötete Gesicht eines Mannes erschien. »Lasst das Mädchen in Frieden!«, sagte der Ankömmling und schob sich ganz hinein, ohne den Zügel des Pferdes loszulassen, sodass auch dessen Kopf im Spalt auftauchte. »Ihr seid ja besessen.«
Das Pferd war einer der zottigen Rappen, die die Brüder züchteten, und der Mann war der große Herr Randulph, den Timothy »Vater der Mönche« nannte. »Also schön: Ich habe gelogen«, fuhr er fort. »Aber die arme Kleine hier hat Euch nichts zu erzählen.«
Schweigt!, wollte Magdalene ihn anflehen. Was mit mir geschieht, ist nicht wichtig, nur verratet meinen Herrn Matthew und die Amsel nicht.
Der Mönch trat zu ihr und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Sie selbst ist ja das Mädchen, das ihr aus unerfindlichen Gründen verfolgt. Eine aus dem Süden, die ich vor etlichen Jahren einem Handelsreisenden abgekauft habe, weil sie mir gefiel. Ja, Ihr habt recht, ich habe sie eine Zeit lang in der Abtei gehalten und mich mit ihr versündigt, und jetzt, wo ich gelernt habe, der Versuchung zu widerstehen, mag ich sie nicht verstoßen. Deshalb lasse ich sie bei meinen Laien hausen. Sie tut niemandem etwas zuleide, und für Euch ist sie ohne Bedeutung – es sei denn, Ihr wollt mich meinem Mutterkloster melden.«
Der Bärtige räusperte sich mehrmals, ehe er die Stimme wiederfand. »Stimmt das, Mädchen?«, fragte er Magdalene und sah sie durchdringend an.
Sie nickte, so gut es sich mit dem verschwollenen Gesicht einrichten ließ, und hätte den Vater der Mönche am liebsten umarmt. »Ja, es stimmt«, stammelte sie schwer verständlich. »Ich habe mich geschämt, es Euch zu sagen.«
Von dem, was die Männer miteinander und mit dem Mönch sprachen, verstand Magdalene nur ein paar Brocken. Der Schlag ihres Herzens dröhnte ihr in den Ohren. Blut lief ihr aus Mund und Nase, aber es kümmerte sie nicht. Nur dass sie ihr glaubten, zählte, dass die Täuschung gelungen war. Erst als der Bärtige fragte: »Was ist mit Matthew de Camoys?«, nahm ihr Gehör den Dienst wieder auf.
Der große Mönch schüttelte den Kopf. »Wäre er hier gewesen, welchen Grund hätte ich, es Euch zu verschweigen?«
»Dasselbe fragen auch wir uns!«, konterte sein Gegenüber.
»Vielleicht solltet Ihr es dann endlich auf sich beruhen lassen?« Begütigend legte der Mönch dem Bärtigen die Hand auf den Arm. »Lasst mich einen Vorschlag machen. Warum brecht Ihr Euer Zelt nicht ab und verbringt diese unwirtliche Nacht in unserem Gästequartier? Es ist kein Palast, aber Ihr behaltet trockene Knochen, und nebenbei könnt Ihr Euch überzeugen, dass wir keine Ritter in unseren Mauern gefangen halten.«
Nach kurzer Beratung willigten die Männer ein. Vermutlich hatten Kälte und Müdigkeit ein Übriges getan. Augenblicklich begann der große Mönch, Magdalene aus dem Zelt zu schieben.
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