Kains Erben
verbrämtem Wollstoff und vollkommen unbeschädigt, weil er es bei dem Überfall nicht getragen hatte. Er strich Magdalenes Röcke hoch und betrachtete ihre Beine. Der Blick, den er hinauf zu Bruder Timothy warf, war nicht zu deuten. »Gib mir dein Hemd«, sagte er zu Hugh.
Verständnislos starrte der Stumme ihn an.
»Herrgott, dann hilf mir!«, bellte er. Vor den Augen der fassungslosen Amicia ließ er sich von Hugh das Kettenhemd lösen, zerrte sich erst den Gambeson und dann das Hemd vom Leib und stopfte es Magdalene zwischen die Beine.
Amicia betrachtete seinen vernarbten Rücken, auf dem sich die Muskeln spannten. »Hilft es?«, fragte sie heiser.
Entmutigt schüttelte er den Kopf. »Du weißt nicht, was zu tun ist, oder?«
Amicia schüttelte ebenfalls den Kopf. Magdalene litt ohne Zweifel an etwas, das nur Frauen befiel, und sie hatte nie eine Frau gepflegt.
»Wir müssen sie irgendwohin schaffen, wo es einen Wundarzt gibt«, sagte er. »Oder eine Hebamme, die womöglich nützlicher ist. Aber sie darf nicht gestoßen werden. Kannst du mit Hugh und Timothy hierbleiben, während ich vorausreite und einen Wagen besorge?«
»Nein!«, entfuhr es ihr. Bei dem Gedanken, mit dem Stummen, dem verstörten Bruder und der möglicherweise sterbenden Kranken allein zu bleiben, wurden ihr die Knie schwach.
Verwundert blickte er auf. »Ich dachte, Bruder Timothy wäre dir lieber als ich.«
»Das ist er auch!«, rief sie schnell.
Sein Mundwinkel zuckte. »Fürchten müsst ihr euch nicht. Ich lasse euch Nameless hier.«
Er stand auf, übergab ihr den Zügel ihres Pferdes und führte seines beiseite, um aufzusteigen. Ehe er es wendete und in Galopp trieb, sah er noch einmal Amicia an. Hinter ihm, am Horizont, verfärbte sich der Himmel rot.
Magdalene starb nicht. Zwar fürchtete Amicia dreimal, der Atem des Mädchens habe ausgesetzt, doch jedes Mal hob er kurz darauf wieder an. Neben Magdalenes Kopf kniete sich Bruder Timothy und verfiel in einen weinerlichen Singsang. »Es ist meine Schuld, Amsel, allein meine! Gott zürnt mir, weil ich mein Gelöbnis gebrochen habe, und in dem armen Magdalenchen straft er mich.«
Die Sonne sank schnell, es wurde kalt, und Amicia fürchtete, auf Bruder Timothy loszugehen, wenn er nicht endlich Ruhe gab. Kurz bevor sie sicher war, dem Wahnsinn zu verfallen, kündigten Hufschläge die Erlösung an: Matthew kam zurück, mit einem Bauernkarren, vor den er den edlen Fuchs gespannt hatte. Als er abstieg und erkannte, dass Magdalene lebte, war die Erleichterung seinen Zügen anzusehen. »Es ist nicht weit«, sagte er. »Gleich kannst du dich ausruhen. Du warst sehr tapfer.«
Der Ort lag keine halbe Stunde entfernt, auch wenn Amicia der Weg endlos erschien. Petersfield war ein aufstrebender Marktflecken; er verfügte sowohl über einen Wundarzt als auch über eine Hebamme. Matthew hatte beide bereits verständigen lassen, und er hatte ein Zimmer in einem Gasthaus gemietet, das ein gutes Stück vor der Stadt lag und sich rühmte, das größte Bett zwischen Southampton und London anzubieten. In dem Bett, so berichtete der Gastwirt mit stolzgeschwellter Brust, hatten letzthin alle sechzehn Mitglieder einer Pilgergruppe genächtigt, die auf dem Weg nach Winchester Rast machte.
Das Bett war in der Tat groß, es war mit sauberen Tüchern überzogen und erschien Amicia so einladend, dass sie fürchtete, sie werde vornüber in die weiche Pracht fallen und einfach einschlafen. Stattdessen half sie Matthew, Magdalene darauf zu betten.
Der Wundarzt und die Hebamme stritten, bis Matthew verfügte, dass erst die forsche junge Frau und anschließend der betuliche ältliche Mann das Mädchen untersuchen sollte. Timothy scheuchte er aus dem Zimmer. »Geht in den Schankraum. Lasst euch Ale und Eintopf geben.« Zu Amicia sagte er: »Leg dich hin, ehe du umfällst. Das Bett ist ja groß genug.«
Sie wollte es nicht, denn es erschien ihr nicht richtig, bei der Kranken zu liegen, während diese untersucht und versorgt wurde. Außerdem stand das Bett ja wohl zuerst dem Ritter zu – und nebeneinander in einem Zelt zu liegen war etwas anderes, als ein Bett zu teilen. Letzten Endes siegte jedoch die Schwäche über jeden Vorsatz. Amicia fühlte sich außerstande, die Stiege noch einmal hinunterzugehen oder auch nur aufrecht zu stehen. Kaum legte sie sich nieder, übermannte sie der Schlaf, obgleich sie sich fest vorgenommen hatte wach zu bleiben, bis sie erfuhr, ob Magdalene geholfen werden konnte. Mit dem
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