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Kains Erben

Kains Erben

Titel: Kains Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Lyne
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sie anzusehen, schüttelte Matthew den Kopf. »Sie muss leben. Ich wünschte, ich könnte diesem Kerl da den Hals umdrehen für das, was er ihr getan hat.« Mit einer Drehung der Schulter wies er auf den schlafenden Timothy, und dann kam nur noch ein Wort, gepresst und voller Verzweiflung: »Aber …«
    »Aber was?«, fragte Amicia.
    Er schoss zu ihr herum. »Aber ich bin nicht besser!«, rief er ihr ins Gesicht. »Ich habe mit ihr gelegen wie er, so wie Tiere es tun, und ich hätte sie ebenso umbringen können!«
    Hugh regte sich im Schlaf und grunzte. Flüchtig fürchtete Amicia, er werde erwachen, doch er rollte sich lediglich auf die Seite und verfiel wieder in sein gurgelndes Schnarchen.
    Amicia stand vom Bett auf und zog sich die Decke um die Schultern. »Ihr habt recht«, sagte sie. »Ihr seid nicht besser als er. Im Gegenteil. Bruder Timothy weiß von all diesen Dingen vermutlich nicht mehr als ein Welpe. Ihr aber habt gewusst, dass Ihr Magdalene schwängern und letzten Endes ums Leben bringen könnt. Ihr habt zudem gewusst, dass sie in der Ordnung meilenweit unter Euch steht, sodass Ihr getrost mit ihr tun durftet, was keine Dame Eures Standes Euch gewähren würde. Sie war Freiwild für Euch, und dass sie ihr Herz und Blut für Euch gegeben hätte, hat Euch nicht berührt.«
    Sie hatte die Flut von Worten aus sich herausgestoßen, ohne Atem zu holen oder sich zu besinnen. Erst als das letzte Wort nachhallte, fiel ihr der Jähzorn ein, den sie an ihm beobachtet hatte, die gespannten Kiefer, die geballten Fäuste. Sie hatte ihn wie einen dummen Jungen abgekanzelt, ihm mit Worten Schläge verabreicht, die er redlich verdiente, aber gewiss noch nie hatte einstecken müssen. Er könnte sich dafür auf sie stürzen, als sei er ein Pfeil, der von der Sehne schnellt. Dass er gefährlich war, hatte sie vom ersten Tag an gewusst, und dennoch hatte sie es um jeden Preis sagen müssen. Warum nur? Dass adlige Herren sich mit Huren vergnügten, war gang und gäbe und selbst ihr nichts Neues. Immerhin sorgte er für das Mädchen und war dabei alles andere als kleinlich. Weshalb sollte er nicht bekommen, wofür er zahlte, zumal Magdalene es ihm mit Freuden geschenkt hätte?
    Er stand still, hielt die Schultern gebeugt und den Kopf gesenkt. »Ich weiß«, sagte er.

12
    D
ie Woche des Pessachfestes war vorüber. Es war gutgegangen. Dafür, dass ihre Familie kein eigenes Haus mehr hatte und der Familienvorstand mit den Dämonen der Trauer rang, war es mehr als gutgegangen, und sie hatten allen Grund, am Morgen danach zufrieden zu sein.
    Vyves beobachtete seine Mutter dabei, wie sie die Schalen und Platten wieder in die Truhe räumte, wo sie auf das nächste Pessach warten würden. Er musste lächeln. So war es seit Carisbrooke gewesen: Auf jeder ihrer Fluchten hatte seine Mutter all ihren Besitz zurückgelassen, aber nicht das Pessachgeschirr, das sie von ihren Schwiegereltern zur Hochzeit bekommen hatte. Die feine Tonware durfte mit nichts in Berührung kommen, das Hefe enthielt. Die meisten anderen Juden, die aus Städten in ganz England in die Gassen rund um die Milk Street geflüchtet waren, besaßen kein eigenes Geschirr für das Fest mehr, sondern schrubbten die Schüsseln, die sie im Alltag benutzten, gründlich sauber. Seine Mutter aber hielt an ihrem Pessachgeschirr wie an einem Rettungsanker fest. Sorgfältig wickelte sie den kostbaren Sederteller, der einem anderen Leben zu entstammen schien, in Streifen aus Leinen.
    Es hätte tatsächlich alles schlimmer sein können. Sie hatten miteinander gefeiert und der Errettung ihres Volkes aus Ägypten gedacht. Zum Sedermahl am Vorabend des Festes hatte die Familie Crespin, in deren Haus sie lebten, sie eingeladen. Es hatte an nichts gefehlt – nicht am Lammfleisch, nicht an Matzeknödeln und nicht am Bitterkraut, nicht an den Früchten der Erde oder dem Wein. Die Crespins waren noch immer wohlhabend, sosehr sie auch unter der Steuerlast ächzten, die der König den Juden auferlegte. Wie so viele waren sie gezwungen gewesen, den Geldhandel aufzugeben und Adam de Stratton ihre Schuldscheine für einen Bruchteil des Wertes zu verkaufen, doch sie besaßen Rücklagen, die genügten, um einen Handel mit Tuch zu beginnen. Das Geschäft florierte, obgleich die Gilde ihnen verschlossen blieb und sie nur an Glaubensgenossen verkaufen durften. Im Keller des Hauses besaß die Familie sogar eine eigene Mikwe, sodass sie nicht auf das öffentliche Tauchbad bei der Synagoge

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