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Kains Erben

Kains Erben

Titel: Kains Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Lyne
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angewiesen waren.
    Die Synagoge war ein schmuckloses, zugiges Gebäude, aber das Gebot besagte, dass in Zeiten der Not ein Raum und eine Truhe für die Thorarollen genügten. Früher hatte es andere Synagogen im jüdischen Viertel von London gegeben, Bauten, deren Schönheit und Pracht die Erinnerung an den Tempel in Jerusalem wachhielten. Eine jener Synagogen war inzwischen niedergebrannt, die andere den Brüdern des heiligen Antonius von Wien zugesprochen worden, die eine Kirche daraus gemacht hatten. Eine Schande, empörte sich Gideon, wann immer sich die Gelegenheit ergab. Doch immerhin hatten sie noch einen Ort, um zu beten, sich zu versammeln, die Schrift zu lesen und ihre Kinder zu unterweisen. Auch ein Dach über dem Kopf hatten sie gefunden, zwei saubere, trockene Zimmer – eines für Gideon, Esther, Deborah und die kleine Noya und eines für Vyves und seine Mutter. Beide Männer hatten im Handelshaus der Crespins Arbeit gefunden, und das Geld reichte, um zu überleben. Sich mehr zu wünschen war vermessen, wenn man auf die Straße hinaustrat und sich ansah, wie es anderen ging.
    »Es war ein gutes Pessach«, sagte Vyves daher zu seiner Mutter, die noch immer den Sederteller in den Händen hielt.
    Seine Mutter blickte auf. Ihr Gesicht war tränennass. »Findest du das wirklich, Vyves?«, rief sie mit einem Anflug von Hoffnung in der Stimme. »Bist du ehrlich zu mir?«
    Er eilte zu ihr und zog sie in die Höhe, nahm ihr den Teller ab, stellte ihn auf die Anrichte und legte die Arme um sie. »Weine doch nicht.« Wie albern war es, so etwas zu sagen? »Natürlich bin ich ehrlich zu dir. Es war ein schönes Fest. Wir haben überlebt, Mutter, wir haben ein Dach über dem Kopf und unsere Familie.«
    »Und das ist dir genug?«
    Er senkte seine Lippen auf ihr Haar. »Warum sollte es nicht genug sein?«
    »Oh Vyves, ich habe solche Sorgen um dich!«, rief sie und weinte neuerlich auf. »Um dich, um meine Nichte Esther, um all die Jungen. Unsere Vorfahren haben das Erbe von Generation zu Generation gemehrt, um ihren Kindern ein wohlbestelltes Haus zu übergeben. Die Familie zu bewahren und voranzubringen, das ist das Herzstück unseres Glaubens – und was haben wir getan? Was hinterlassen wir euch? Du bist ein wohlgeratener Sohn, keine Mutter könnte sich einen besseren wünschen, aber du wagst nicht einmal, das Mädchen zu heiraten, das du lieb hast, weil du kein Heim für sie hast und einer Familie kein Leben bieten kannst.«
    »So ist es doch nicht!« Seine Hände umklammerten ihre mageren Arme. Er hielt sie von sich weg und zwang sie, ihn anzusehen. Wie klein sie war! Dass dieses zarte Geschöpf ihn getragen, genährt und über Jahre behütet hatte, erschien ihm auf einmal unvorstellbar. »Unser Leben war gut in Carisbrooke«, sagte er und spürte dem Klang des verbotenen Wortes nach. »Du und Vater, ihr habt mir alles gegeben, was Eltern ihrem Sohn nur geben können. Es ist nicht eure Schuld, dass wir es verloren haben, Mutter. Etwas davon ist noch bei mir, und das ist ein reiches Erbe. Ich würde es gegen kein anderes tauschen.«
    Sie hob die Hand und strich ihm über die Wange, wie sie ihn gestreichelt hatte, als er ein Kind gewesen war. Vyves hatte die Wahrheit gesagt: Die Liebe, die in der Geste lag, hätte er gegen nichts anderes eintauschen wollen. Immer hatte sie ihn behandelt, als hätte Adonai ihr kein größeres Geschenk machen können als ihn.
    »Vyves?«, sagte sie leise.
    Er gab sich Mühe, zu lächeln. »Ich muss ins Geschäft, Mutter.«
    »Nur eines noch: Heirate Deborah. Sie ist ein feines Mädchen und stellt keine Ansprüche. Ich kann mich in den Erker zurückziehen, damit Platz für ein Bett ist, und gewiss kann ich auch noch sparsamer wirtschaften …«
    Zart hielt er ihr den Mund zu und schüttelte den Kopf. »Ich gehe jetzt, denn ansonsten komme ich zu spät und Samuel Crespin verliert um meinetwillen Kunden. Übers Heiraten können wir schwatzen, wenn Zeit dazu ist.«
    »Geht es nach dir, dann ist nie Zeit dazu.« Sie tippte ihm auf die Wange. »Glaubst du, ich weiß nicht, was du denkst?«
    Vyves spürte, wie ihm das Lächeln vom Gesicht glitt. »Ja«, sagte er, »das glaube ich.«
    »Du irrst dich! Du denkst, du darfst Deborah nicht heiraten, weil sie Besseres verdient. Aber sie liebt dich, sie will keinen als dich!«
    Er löste sich von ihr und ging zur Tür. »Eben deshalb hat sie Besseres verdient«, murmelte er. »Bleib nicht den ganzen Tag im Haus, hörst du? Es ist schön

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