Kains Erben
Mädchen nicht lebend nach Aldfield gelangte, behielt Cyprian wohlweislich für sich.
»Ich verstehe.« Der Kastellan senkte den Blick. »Ist mir noch eine Frage gestattet?«
»Wenn Ihr sie Euch nicht verkneifen könnt.«
»Was soll mit Herrn Matthew geschehen?«
Die Frage hätte Cyprian sich selbst stellen müssen, aber er hatte es nicht getan. Noch einmal sah er hinüber zum Wald und dachte an ein Kind, das dort mit einer Schleuder die Geheimnisse der Jagd erlernte. Ach, er wollte an all das nicht mehr denken, sich nicht mehr mit Dingen quälen, die es nie wert gewesen waren! »Natürlich sollte Matthew, soweit als möglich, geschont werden«, sagte er.
»Und wie, Mylord, dürfen wir ›soweit als möglich‹ auffassen?«
»Das ist eine törichte Frage«, erwiderte Cyprian müde. Es verlangte ihn nach seinem Privatgemach, nach verdunkelten Fenstern und einem Krug Wein. Wie immer, wenn allzu viel, allzu Unsägliches auf ihn einstürzte, hallte ihm Gregorys erbärmliches, welsches Lied im Ohr.
»Die Männer sollen also …«, stotterte Robert.
»Was nicht möglich ist, ist nicht möglich«, schnitt ihm Cyprian das Wort ab. »Darüber braucht es kein Palavern. Achten sollen die Männer allerdings darauf, dass sie jegliches Geld, das er bei sich trägt, an sich nehmen und es dem Hof in London überstellen.«
11
A
ls Amicia ein Kind gewesen war, hatte Randulph ihr erklärt, warum die weißen Mönche schwiegen: »Es ist nichts Schlechtes, unter Menschen einsam zu sein. Es ist nur hart, es zu ertragen. Wer diese Einsamkeit nicht auf sich nimmt, wird nie spüren, wie dringlich er Gott braucht. Er wird keinen Zwang verspüren, ihn zu suchen, und er wird seine Nähe nicht finden. Du musst Gott dankbar dafür sein, dass er dir Einsamkeit gegeben hat und du nicht um sie kämpfen musst.«
Damals hatte Amicia an seinen Lippen gehangen und hätte alles getan, was er ihr sagte, damit Gott irgendwann kam und sie in die Arme schloss. Jetzt wünschte sie, sie hätte auf sein Geschwätz nichts gegeben, hätte auf Gottes Umarmung gepfiffen und wäre fortgelaufen, irgendwohin, wo Menschen waren. Gewöhnliche Menschen, die miteinander sprachen, weinten, zankten und lachten. So wie Magdalene und Bruder Timothy, die auf dem Maultier und dem schwarzen Pferdchen nebeneinander herzockelten und den ganzen Tag lang plapperten. Vielleicht hätte eine Familie von Bauern ein herrenloses Kind in ihr Haus genommen. Vielleicht hätte sie das Lesen und Schreiben vergessen, dafür aber gelernt, wie man als Mensch unter Menschen lebte.
Sprechen, weinen, zanken und lachen. Einander ausschelten. Sich vertragen. Einander Guten Morgen und Gute Nacht wünschen. Einander manchmal umarmen. Einander manchmal sagen: Ich bin froh, dass du da bist.
Das Schweigen, mit dem sie tagein, tagaus neben Matthew de Camoys herritt, empfand Amicia viel umfassender und lähmender als das Schweigen der Mönche. Es war nicht das Schweigen von einem, der die Nähe Gottes suchte, sondern von einem, der jegliche Nähe verabscheute.
Sie zogen gen London, wo er dem königlichen Exchequer das ergatterte Geld übergeben wollte. Sie kamen jedoch nur langsam vorwärts, weil Hugh zu Fuß ging und Magdalene keine schnelle Gangart reiten konnte. Auch nahmen sie unterwegs Umwege über zwei Dörfer, in denen Matthew weiteres Geld an sich brachte. Amicia war alles recht. Seit sie das Fährschiff bestiegen und die Insel hinter sich gelassen hatte, war für sie ein Ort wie der andere. Sie wollte nur eines: nicht an die Saat auf ihrem kleinen Stück Land denken, an das erste Grün, das sie nicht sehen würde, wenn es reif war.
Abends schlugen sie ein Zelt auf, in dem sie dicht beieinanderliegen mussten und einander doch nicht nahe waren. Magdalene und Timothy schlichen sich hinaus, sobald sie die anderen schlafend wähnten. Als es einmal in Strömen regnete, blieben sie jedoch und erledigten ihr Vorhaben unter den Decken, wobei einer dem anderen den Mund zuhielt.
Amicia hatte wie so oft nicht schlafen können. Sie wollte sich die Decke über die Augen ziehen, um den beiden nicht zuzusehen, doch sie konnte den Blick nicht abwenden. Es war im Grunde so, wie Tiere es machten. Es erinnerte sie an die Schafe, die sich in Wind und Kälte aneinanderdrängen, um die Körperwärme des anderen zu spüren. Sie hätte es anstößig und verrucht finden sollen, aber sie fand es schön. Keine perfekte Umarmung von Gott, sondern eine unvollkommene, warme von Menschen. Entsetzt ertappte sie sich
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