Kains Erben
dabei, dass sie wünschte, Bruder Timothy hätte sie statt Magdalene zu sich auf sein Lager geholt.
Dann wurde Magdalene krank. Schon am Morgen, während sie einen Streifen lichten Waldes durchquerten, fiel Amicia auf, dass zwar Bruder Timothy wie sonst auf sie einschwatzte, dass aber das Mädchen nur gepresst und einsilbig antwortete. Kurz vor Mittag sagte Magdalene sogar: »Timothy, könntest du wohl versuchen, still zu sein? Mir rauscht der Kopf, und ich habe Angst, dass er mir platzt.«
»Aber was ist dir denn, Magdalenchen?«, fragte Timothy besorgt. »Du bist doch sonst nicht so!«
Allerdings nicht, dachte Amicia und sorgte sich ebenfalls. Timothys Bemühungen, still zu sein, scheiterten, Magdalene aber schwieg weiter. Gegen Mittag erklärte sie, sie könne nicht länger auf dem Maultier sitzen, sondern wolle zu Fuß weitergehen. Jetzt begann auch der Stumme, sich zu sorgen, umtanzte sie mit seinen zappeligen Gesten und versuchte, sie zu stützen.
»Lass gut sein, Hugh«, sagte Magdalene, »du hast ja genug zu schleppen.« Sie schritt recht zügig aus, ging jedoch krumm wie eine alte Frau.
Eine Weile lang sah Amicia sich das Elend mit an, dann kannte sie kein Halten mehr. »Habt Ihr eigentlich kein Herz oder keine Augen?«, schrie sie Matthew de Camoys an, der unbeteiligt auf seinem Ross thronte. »Das Mädchen braucht eine Rast – lässt es Euch völlig kalt, wenn es zusammenbricht?«
Lässig, mit nur einer Hand, brachte er das Pferd zum Stehen und wandte den Kopf. »Willst du rasten, Mag?«
»Aber nicht doch, Herr Matthew!«, rief sie bemüht heiter. »Ich komme schon zurecht.«
Ohne ein weiteres Wort ließ er das Pferd wieder in Schritt fallen. Nie zuvor hatte Amicia sich so heftig gewünscht, einen Menschen zu ohrfeigen.
Irgendwann am Nachmittag, als sie über freies Feld zogen, musste Magdalene zu bluten begonnen haben. Bruder Timothy hatte mittlerweile aufgehört zu schwatzen, und Amicia ritt in dumpfes Brüten versunken dahin. Irgendwann drehte sie sich schuldbewusst um. Vor Schreck entfuhr ihr ein Laut. Magdalenes sonst blühende Gesichtshaut war weiß wie Kalk. Amicia hegte keinen Zweifel daran, dass der Fleck auf ihrem Rock von Blut stammte. Sie wartete nicht, bis ihr Pferd stillstand, sondern sprang ab und lief zu dem Mädchen.
Hinter Magdalene verlief eine dunkle Spur im Gras. Ohne nachzudenken, riss Amicia ihr die Röcke in die Höhe. Das Blut lief Magdalene in Strömen die Schenkel hinunter. Das Mädchen sandte ihr noch einen seltsamen, wie flehenden Blick, dann verdrehte es die Augen und brach in Amicias Armen zusammen.
Haltlos vor Schrecken und Zorn fuhr Amicia Hugh und Timothy an: »Seid ihr beide blind? Habt ihr nicht gesehen, dass die Frau verblutet?«
Timothy sah aus wie die fleischgewordene Verzweiflung. »Gesehen hab ich’s schon, aber nicht gewusst, was da zu tun ist.«
Seine törichte Antwort machte Amicia wütend, aber wenn sie ehrlich war, wusste sie es auch nicht besser. Binnen Kurzem würde die Nacht heraufziehen, und von einer menschlichen Siedlung war weit und breit nichts zu sehen. Selbst wenn sie eine Ortschaft gefunden hätten, wie hätten sie Hilfe herbeischaffen können? Außerhalb von Klöstern kostete ärztlicher Beistand Geld, und keiner von ihnen besaß auch nur einen Penny. Amicia wurde kalt, als sie begriff, dass sie mit Leib und Seele von Matthew de Camoys abhingen, der für keinen von ihnen einen Pfifferling gab. Ihn scherte nur das verfluchte Geld für seinen König – um das ans Ziel zu bringen, würde er sie alle zurücklassen, auch wenn Magdalene verblutete und der Rest verhungerte.
»Das war leichtsinnig.«
Amicia fuhr herum und sah ihn hinter sich stehen, die Zügel beider Pferde in der Hand. »Was?«, fragte sie überrumpelt.
»Das Pferd loszulassen. Wäre es uns davongaloppiert, hätten wir es schwerlich einfangen können.«
»Ist das alles, was Euch kratzt?«, schrie sie von Sinnen, derweil ihr die verhassten Tränen in die Augen schossen. »Keine drei Schritte hinter Euch verblutet dieses arme Mädchen, das Euch mit Haut und Haaren verfallen ist, und Ihr macht Euch Sorgen um ein Pferd!«
Mit einer einzigen fließenden Bewegung umrundete er sie und nahm ihr Magdalene aus den Armen. »Nicht schreien«, sagte er leise. »Sie hat gesagt, ihr rauscht der Kopf.« Behutsam bettete er das Mädchen auf den Boden, löste die Fibel seines Tabards und schob ihn ihm unter den Kopf. Es war ein schönes Kleidungsstück aus schwarzem, mit Pelz
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