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Kains Erben

Kains Erben

Titel: Kains Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Lyne
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draußen. Der Frühling heitert dich auf.«
    »Küsse die Mesusa, ehe du gehst, mein Sohn.«
    Vyves küsste die am Türpfosten aufgehängte Schriftkapsel, die den Text des täglichen Gebets enthielt: Höre, Israel, Adonai ist unser Gott …
    »Und Vyves … Danke, dass du das zu mir gesagt hast.«
    »Was?«
    »Das über Carisbrooke. Ich war dort mit dir und deinem Vater glücklich, ich kann nicht aufhören, daran zu denken.«
    »Ich auch nicht«, sagte Vyves, zog leise die Tür auf und ging.
    Im Geschäft maß er Ware ab, die im Laufe des Vormittags abgeholt werden sollte, und er schnürte Samt für einen christlichen Kunden zu einem unauffälligen Päckchen zusammen. Dem Gesetz nach durfte er lediglich christliche Gerber ins Geschäft lassen, die billig Häute aufkauften, doch der Händler, der den Samt bestellt hatte, wollte auf Samuel Crespins Qualität nicht verzichten. Erwischen lassen durfte er sich dabei unter keinen Umständen. Christen, die allzu enge Beziehungen zu Juden unterhielten, drohte die Exkommunikation, der Verlust ihres Seelenheils. Deshalb schickte der Mann einen Boten, der sich von Vyves das Paket in die Hände drücken ließ und sofort wieder aus dem Laden flitzte. Es schien Vyves unvorstellbar zu sein, dass er einmal unter Menschen gelebt hatte, ohne sich ernstlich zu fragen, ob sie Christen oder Juden waren.
    Was war das heute? Warum konnte er nicht aufhören, an die Vergangenheit zu denken? Weil die Mutter wieder von seiner Heirat angefangen hatte? Vyves hätte andere Sorgen haben sollen, denn Gideon, der mit ihm das Geschäft führte, war noch immer nicht unten. Es war beileibe nicht das erste Mal, doch nach ihrem letzten Streit hatte Gideon versprochen, sich am Riemen zu reißen. Und hatte er sein Versprechen nicht während der gesamten Pessachwoche gehalten?
    Vyves weigerte sich, den Teufel an die Wand zu malen. Gideons Frau war krank. Wenn er am Morgen nach dem letzten Festtag ein wenig länger bei ihr bleiben wollte, wäre er der Letzte, der es den beiden missgönnte.
    Vyves hätte also wahrlich andere Sorgen haben sollen, aber er hatte nur die eine. Sobald die Arbeit des Morgens erledigt und der erste Strom der Kunden versickert war, tat er, was er sich kaum je gestattete: Er zog das Medaillon seines Vaters unter der Kleidung hervor und ließ es aufschnappen. Der Fetzen lag noch darin – und wie stets verspürte Vyves darüber eine lachhafte Erleichterung.
    Im Grunde verdiente es Verachtung, dass er dieses so zweifelhaften Trostes bedurfte. Schließlich hing eine Familie von ihm ab. Was Gideon durchgemacht hatte, war genug, um einen Mann zu zerbrechen, da war es nur recht und billig, dass er ihm seine Bürde von den Schultern nahm. Als Vorstand einer Familie aber durfte Vyves sich keiner derart albernen Beschäftigung hingeben. Er hätte um die Zukunft kämpfen müssen, statt in Erinnerungen zu schwelgen, die flüchtig wie Nebel und schmerzhaft wie die Öffnung einer Wunde waren.
    »Meine Schwester Amicia, die Amsel von Carisbrooke«, war in verwischter Tinte aus Galläpfeln auf dem Fetzen lesbar, sofern man wusste, was einst dort gestanden hatte. Ein rostroter Fleck verwischte den Namen Amicia. Aber den Namen hätte er selbst dann noch dort entziffern können, wenn all die Tinte erloschen und das Pergament in Brösel zerfallen wäre.
    Amicia, Amsel von Carisbrooke. Deborah bat Oved, süße Rose von Sharon, wie kann ich dich heiraten, wo mir einmal ein todernster Christenpriester von acht Jahren erklärt hat, wenn ich eine andere nähme, beginge ich die Sünde der Bigamie? Er hat sein Leben dafür gelassen, mein Priester von acht Jahren. Den albernen Fetzen des Brautvertrags, in unseren kindlichen Handschriften aufgesetzt, habe ich auf Knien kriechend gefunden, als alle fort waren. Er klebte mit meinem Blut auf einem der Pflastersteine, und ich habe ihn auf allen Fluchten mitgenommen wie meine Mutter das Pessachgeschirr.
    Ein Geräusch ließ ihn zusammenfahren. Hastig stopfte er das Medaillon wieder unter sein Hemd. Seit jenem Tag im Brunnenhof von Carisbrooke verwechselte sein Gehör zuweilen die Richtung, und auch jetzt blickte er nach vorn, auf die Ladenglocke, ehe er begriff, dass das Geräusch von hinten kam. Er drehte sich um.
    Im Gang, der vom Wohntrakt zu den Lager- und Verkaufsräumen führte, stand Deborah. »Vyves.« Ihre Stimme klang verzagt, wie er es nicht von ihr kannte.
    In drei Sätzen war er bei ihr. »Deborah, was ist denn? Steht es schlechter um Esther?«
    Sie

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