Kains Erben
ist mir einerlei, ob du schlecht bist. Du hast mein Leben gerettet. Bitte halt es fest, bis es sich wieder beruhigt.«
Noch einmal lief über seinen Rücken ein Beben, als schüttle sein Körper etwas ab. »Komm mit«, sagte er, legte den Arm um sie und führte sie die Stiege hinab.
14
E
s war ein Frühling mit zu viel Regen. Noch immer ging es den Bewohnern der Insel besser als denen auf dem Festland, aber Gemunkel von einer Strafe Gottes machte auch hier die Runde. Die Menschen seien gottlos geworden, hieß es, sie gierten nach Wohlstand und vergäßen den, dem sie ihn verdankten. Selbst der König sei gottlos in seinem Streben nach irdischer Macht. In die Enge getrieben leiste er jedes Versprechen, doch sobald er seinen Willen habe, sei sein Wort so wertlos wie fallendes Laub. Er gewinne seine Schlachten durch Hinterhalte und belohne weder die Männer, die ihm die Siege errangen, noch den Allmächtigen, der in seiner Gnade ihre Schwerter führte. Für einen solchen König werde ein Volk gestraft, und bald werde es in ganz England keinen Wein und nur noch saure Früchte geben.
Randulph glaubte nicht daran, dass Gott Unwetter und Missernten sandte, um unbotmäßige Könige zu strafen. Glaubhafter schien ihm zu sein, dass er eine Geißel von König sandte, um ein gottloses Volk zu strafen. Aber dass das Volk dieser Zeit gottloser war als das früherer Zeiten, vermochte er ebenfalls nicht zu glauben. Aus seiner Sicht waren Menschen immer gottlos, es lag in ihrer Natur. Erging es ihnen gut, dann vergaßen sie Gott, weil in ihrem prallen Leben kein Platz für ihn war. Erging es ihnen schlecht, dann wüteten sie gegen seine Ungerechtigkeit.
So oder so musste die Abtei sich auf die Folgen der Unwetter und eine größere Zahl von Bittstellern einrichten. Bauern, die ihren Kindern ihr Saatgut zu essen gegeben hatten, und Tagelöhner, die nach den Stürmen ohne Obdach waren – all diese Leute kamen zum hinteren Eingang des Küchentraktes, wo Bruder Justin, der Kellerer, ihnen ihr Almosen aushändigte. Durch Futterluken im Gang hinter den Vorratskammern reichten sie Speisen an Bedürftige, die an Aussatz oder Schlimmerem litten, sodass kein Bruder gezwungen war, sie zu berühren. Zumeist bildeten all diese Bettler eine stille Schar, eine Welle, die gegen Morgen über das Land der Abtei schwappte und sich vor dem Abend zurückzog, ohne dass Randulph viel davon mitbekam.
Er nahm sich oft vor, sich zumindest gelegentlich selbst um Notleidende zu kümmern, weil es ihn für kurze Zeit von seinen Gedanken, die sich im Kreis bewegten, erlöste: An diesen Menschen, die einfach Hunger hatten und diesen stillen wollten, ließ sich Gutes vollbringen, ohne zu grübeln oder zu zweifeln. Randulph war schließlich hierhergekommen, um Buße zu leisten, und vor den Bittstellern, denen ein Brot aus der ärgsten Not half, kam ihm dieser Akt zumindest nicht sinnlos vor. Zu seinem Bedauern hatte er jedoch so gut wie nie Zeit dazu, und Bruder Justin behelligte ihn nicht damit. Umso auffälliger war es, dass der Kellerer an diesem Nachmittag an die Tür der Zelle klopfte, die Randulph dem bequemen Abtshaus vorzog.
»Draußen steht ein Einbeiniger, der darauf beharrt, Euch zu sprechen, Vater. Er sagt, Ihr würdet es übelnehmen, wenn man ihn nicht zu Euch brächte.«
Randulph war mit einem Brief ans Definitorium beschäftigt, mit seinen Gedanken jedoch wie so häufig weit entfernt gewesen. Der mysteriöse Einbeinige kam ihm daher recht, zudem trieb ihn die Neugier. Kein Bettler hatte Grund, einen Abt zu konsultieren, wenn es nur um ein Almosen ging. »Du hast richtig gehandelt«, versicherte er dem Bruder. »Besser, ich sehe mir an, was ihn umtreibt.«
Es war ein abscheulicher, windiger Tag unter schwarzem Himmel. Der Einbeinige hielt sich bemerkenswert sicher auf seinen zwei Krücken. In eine Kutte gehüllt, die rau wie ein Bärenfell wirkte, wartete er im zu schmalen Eingang. Sein Gesicht lag im Schatten der Kapuze verborgen. Die Verkleidung war gelungen, und Randulph hatte den Mann seit etlichen Jahren nicht gesehen. Dennoch erkannte er ihn sofort, ja er war sich auf einmal sicher, dass er schon auf dem Weg nach draußen gewusst hatte, wer ihn erwartete.
»Ist es gestattet, hereinzukommen?« Die Stimme war noch dieselbe. Schwer wie im Süden gereifter Wein und so verschliffen, als räkle sich der Sprecher im Bett einer schönen Frau.
Randulph drehte sich zu Justin um. »Sei so gut, geh ins Kalefaktorium, und bring den zur Ader
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