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Kains Erben

Kains Erben

Titel: Kains Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Lyne
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ließ seinen Blick so prüfend schweifen, als wolle er Carisbrooke kaufen. Als er Isabel und ihren Begleiter kommen hörte, schwang er herum und breitete in übertriebener Geste die Arme aus. »Isabel, meine verehrteste Gräfin – wie freut mich das, ach, wie freut mich das!«
    Von der Zurückhaltung seines Vaters schien der junge Graf nichts geerbt zu haben, aber immerhin sah er dem Verstorbenen ähnlich. Wie dieser war er von schmächtiger Statur, wozu weder der große Kopf mit der löwenhaften Mähne noch der ausladende Gestus passen wollte. Einer jener kleinen Männer, die ihr Streben nach Größe noch kleiner machte. Isabel ließ sich aus dem Sattel gleiten und übergab das Tier dem Stallknecht. Dass der Junge tatsächlich zu einem Freundschaftsbesuch hier war, glaubte sie keinen Moment lang, aber was auch immer ihn herführte – er sollte zu sehen bekommen, was Carisbrooke zu bieten hatte.
    »Es tut mir leid, dass Euer Mann verletzt wurde«, bekundete sie kühl. »Meinem Wachsoldaten ist allerdings kein Vorwurf zu machen. Wir rechnen hier nicht mit unverhofftem Besuch, weshalb er annehmen musste, es mit feindlichen Eindringlingen zu tun zu haben.«
    Der brüske Empfang brachte Piers de Montfichet aus der Fassung. Offenbar traute er seinem mickrigen Charme zu, Herzen im Sturm zu erobern. »Ich bitte um Verzeihung – der Plan, Euch zu besuchen, nahm so plötzlich Gestalt an, dass für einen Boten keine Zeit blieb«, suchte er, sich aus der Affäre zu ziehen.
    »Lassen wir es gut sein«, schlug Isabel vor. »Wie es aussieht, hat der Bolzen Euren Mann nur gestreift, und mein Bader erfreut sich eines ausgezeichneten Rufes. Wenn die Wunde versorgt ist, würden Eure Leute sich sicher gern von den Strapazen der Reise erholen.«
    »Wenn es möglich ist – es wäre fraglos willkommen.«
    »Mein Stewart wird ihnen die Gästequartiere im Donjon zeigen, die sie nach ihrem Belieben nutzen können«, erklärte Isabel. »Ich muss die Räume lediglich rasch richten lassen, da mit Eurem Besuch nicht zu rechnen war.« In Wahrheit waren die Gästequartiere in tadellosem Zustand und würden nur Betttücher und eine frische Aufschüttung Stroh benötigen. Dass die Fenster zur Hofseite vermauert waren, würde den Gästen nicht einmal auffallen.
    Piers de Montfichet protestierte zwar, für seine Männer sei kein Aufwand nötig, sie gäben sich mit einem Schlafplatz in der Halle zufrieden, aber Isabel beschied ihn: »Auf meiner Burg hat es noch kein Mann von Stand nötig gehabt, in der Halle zu schlafen. Ob er in friedlicher oder feindlicher Absicht kommt – ein Gast wird auf Carisbrooke in Ehren empfangen.«
    »Aber Gräfin!«, rief der kleine Mann. »Ihr könnt doch nicht an der Freundlichkeit meiner Absicht zweifeln.«
    »Hättet Ihr Euren Vater gefragt, so wüsstet Ihr, dass ich noch ganz anderes kann«, verwies sie ihn. Dann unterwies sie Roger wegen der Quartiere und ging hinüber zur Halle, um für ein festliches Abendessen Sorge zu tragen.
    Der zweistöckige, wie ein L geformte Steinbau, in dem zu ebener Erde ihre Halle lag, gehörte zu den Gebäuden, die sie nach ihrer Ankunft hatte errichten lassen. Die Pracht bedeutete ihr nichts, da sie sie nie mit Baldwyn geteilt hatte, doch um Gäste zu beeindrucken, war sie glänzend geeignet. Der ganze Komplex, samt einer in Marmor gehaltenen privaten Kapelle, war nahe an die Kurtine gebaut, und die Halle lag nur durch einen Gang vom Küchentrakt getrennt, sodass die Speisen frisch und dampfend auf den Tisch gelangten. Der Raum war gediegen, aber spärlich möbliert, um ihm die Weite zu erhalten, die etwas von einem Kirchenschiff hatte und Besucher verstummen ließ.
    Es war ein Raum, der von Geselligkeit und Wohlstand kündete, von einem Leben, das es hier hätte geben können, wären die Geschwister vereint auf der Insel geblieben. An einem langen Tisch aus schimmerndem Kirschholz lud die Herrin von Carisbrooke zu Mahlzeiten ein, hielt Rat oder saß zu Gericht. Auf dem gefliesten Boden lag frisches Stroh, in das sie Kräuter aus ihrem Garten mischen ließ, und an den Wänden hingen Teppiche in dunklen Tönen, die Szenen einer Beizjagd zeigten. Adam liebte die Halle. Von seinen Reisen, die Isabel Raubzüge nannte, brachte er auserwählte Kostbarkeiten mit, um sie zu schmücken: Leuchter aus mattem Silber, orientalische Töpferarbeiten, Weinkelche, groß wie Kinderköpfe, aus grünlich schillerndem Glas. Isabel musste zugestehen, dass die Halle ihm stand. Er spielte sich darin

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