Kairos (German Edition)
Kritik an seiner Person, seiner Führung, der Kollaboration mit den Skulls gleichgestellt, einem todeswürdigen Verbrechen.
Aber er hatte auch den Anfang gemacht, alle, die hier unten lebten, zusammenzuschweißen.
„Von jetzt an sprechen wir mit einer Stimme, und es wird meinesein. Das Schicksal verlangt es, und wer damit nicht einverstanden ist, soll jetzt vortreten und seinen Unmut offen äußern.“
Niemand trat vor. Außer dem üblichen elektronischen Klicken und Summen sowie einem Räuspern war es still.
Falls ihr eine Meuterei anzettelt, dann jetzt. Ich bin machtlos. Entweder jetzt, oder niemals.
Paul Blaskowitz sagte: „Als ranghöchster anwesender Offizier und Vizepräsident der Europäischen Union spreche ich im Namen jedes Soldaten und jedes Ratsmitglieds, wenn ich sage: Aron Berg war mein Präsident. Aber er ist gestorben. Und jetzt sind Sie Präsident, Rufus Bals. Sie sprechen für mich. Ich folge Ihnen, wie ich Berg gefolgt bin.“
Zustimmendes Murmeln der Generalität. Bals wußte, daß amtierende Militärs den Präsidenten niemals in Frage stellten, erst recht nicht in Kriegszeiten. Dennoch registrierte er es mehr als erleichtert. Ich habe die Weisungsbefugnis. Ihre prekäre Lage besserte sich dadurch kein bißchen. „Danke, Paul, Ihnen allen.“
Ein- und Ausatmen; die Nerven beruhigen. Er war auch physisch ausgezehrt, wie nach einem seiner geliebten Dauerläufe durch den Brüsseler Stadtwald, aber geistig kein bißchen geklärt, wie es nach dem Laufen der Fall war.
Bals sah Blaskowitz zu, wie dieser an den Kontrollen hantierte, unablässig Befehle in sein Kragenmikrofon sprach und verbliebene Luftverbände anwies, sich zurückzuziehen und ihr Heil in der Flucht zu suchen. Bals fand dies überfällig. Die Infanterie- und Panzerverbände waren längst aus den Kampfzonen, die sich inzwischen über den gesamten Kontinent verteilten, abgezogen worden. Die Verluste waren verheerend. Die militärischen Einheiten hatten fast siebzig Prozent ihrer Sollstärke eingebüßt; die gepanzerten Verbände mit den schwerfälligen Hooverfahrzeugen waren für die Skulls das leichteste Ziel gewesen. Bei der Luftwaffe sah es noch schlimmer aus. Die meisten Piloten waren gefallen, ihre Maschinen verloren. Diejenigen, die sich retten konnten, waren in alle Winde verstreut und schlugen sich allein oder in kleinen Gruppen durch eine ihnen plötzlich feindlich gesinnte Welt. Nur die hart gesottenen würden den nächsten Tag, die Torturen, die er bereithielt, überstehen, um dann ... was zu tun? Alles Kämpfen, Sterben war von Anfang an sinnlos gewesen.
Es blieb die linde Hoffnung auf das Eintreffen der Som´ai, schlagkräftig genug, um es mit dem Basisschiff der Shumgonaaufzunehmen. Aber daran glaubte niemand. Die Flotte hätte längst eintreffen müssen.
Es war das schlimmste Szenarium gewesen; es war eingetreten. Die Menschheit stand allein da, nicht am Scheideweg, wie von vielen deklariert, sondern am Vorabend ihrer Auslöschung durch eine externe Macht.
Bals sagte: „Weitermachen, Marshall.
Was immer sie auch gerade tun
.
Blaskowitz nickte unmerklich.
Als Bals sich umdrehte, sah er Sharon Saintluca neben einem Kommunikationspult stehen. Und wußte: Mit Monterreys Ausschluß, ihrer Demontage, hatte er ihrer Gegenspielerin zu großem Auftrieb verholfen. Die Zukunft hier, dachte er entmutigt, mochte noch viele Unbilde und Gefechte bereithalten. Darüber hinaus manchen Irrtum. Wie er Monterrey vor versammelter Mannschaft abgekanzelt hatte, war ein Fehler gewesen. Wetteifernde Gefühle diesbezüglich überkamen ihn; ein Zustand, den er nicht kannte. Er schob es auf die Strapazen, aber diese Erklärung reichte ihm selbst nicht. Was sollte er tun? Mit einer rachsüchtigen Monterrey und intriganten Sharon Saintluca im Rücken wäre es noch schwerer, die Menschen auf Kurs zu halten und Disziplin zu wahren, als es mit den Skull-Armeen über ihnen sowieso schon der Fall war.
Der Mensch steht einem übermächtigen Feind gegenüber. Aber er ist noch immer auch sein eigener Feind; niemals wird das anders sein.
Er dachte an Pris. Selbstzweifel quälten ihn. Aron Bergs Tod war eine Flutwelle gefolgt, die ihn auf diesen Posten gespült hatte. Obwohl er als zweiter Mann im Staat gegen alle Eventualitäten stets gewappnet sein mußte, war es von ihm selbst nie vorgesehen gewesen, Berg zu beerben. Bals hatte vorgehabt, Berg ein gewissenhaft arbeitender, loyaler Vize zu sein, der ihn sicher über das politische Parkett
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