Kairos (German Edition)
vorzulegen.“
„Ich weiß.“
Sie eilten durch den Flur, vorbei an riesigen Topfpflanzen und erreichten die grifflose Tür von Raum LE 101. Alain hob die Hand, um einen Wandschalter zu drücken, verharrte aber mitten in der Bewegung und neigte horchend den Kopf.
„Warte“, sagte er. „Hörst du das?“
Sie lauschten den Stimmen, die durch die Tür drangen.
Alain lächelte betrübt. „Sie streiten, nicht wahr?“
„Ja.“
Er berührte den Wandschalter. „Lori,
entre nous
“, sagte er unvermittelt, „dies hier ist definitiv das Größte...“
Von Alains schon kindlicher Freude berührt, lächelte sie in sich hinein. Er wirkte in der Tat wie ein Junge, der allen zugleich ein Geheimnis verraten will, und das am besten mit nur einem, allumfassendem Wort.
„Eine Fremdintelligenz, hier im System“, sagte er weiter und hieb ohne hinzusehen erneut auf den Schalter. „Es gibt einen Grund, weshalb sie kommen, weshalb jetzt.“
Sie nickte.
Weshalb?
Es gab noch keine Antwort darauf.
Er schlug gegen die Tür. „
Merde.
“ Er holte wieder aus, doch Lori legte ihre Hand auf seinen Ellbogen. „Warte.“
Jemand stieß die Tür auf, ein dünner, langer Wissenschaftler in Arbeitskittel und einem nervösen Tick im rechten Auge. „Alain! Lori! Man erwartet Sie bereits. Kommen Sie, kommen Sie“, sagte er und ging wieder hinein.
„Keine Angst, hörst du?“, sagte Alain leise zu Lori, die daraufhin tapfer lächelte und erwiderte: „Keine Angst, hörst du?“
Alain versuchte auch tapfer zu lächeln, und sie betraten den fensterlosen Raum, um dem dort tagenden Kolloquium beizutreten.
Ein Gewirr vertrauter Stimmen empfing sie. Man disputierte aufgebracht miteinander. Leo Cromer war hier, ebenso sein Assistent, Marc Jaurés, ferner Carla Örebro, Simon Thalheim und Selda Lafette.
Europas Koryphäen
, dachte Lori.
Und es stimmt: Sie streiten sich wie Kinder.
Sie folgte Alain zu einem mit aktivierten Datenschirmen überhäuften Displaypult, an dem alle saßen.
Jaurés nickte ihnen zu. „Dann wären wir vollzählig. Bitte nehmen Sie Platz.“
Es wurde still. Alain und Lori begrüßten die Anwesenden knapp und setzten sich. Cromer eröffnete die Runde und fragte: „Alain, sind das die letzten Teleskopbilder?“
„Ehm, ja.“ Er reichte Cromer den Stick, der ihn an ein Dataportterminal an der Tischkante schloß. Jaurés bediente den Dimmer, der Raum verdunkelte sich und aus einer Projektionslinse in der verspiegelten Platte des Rundtisches schoß ein Hologramm in Stereovision: Deimos in 3-D. Raunen. Beratungen. Ratlosigkeit. Alles an diesem Mond lag auf einer ambivalenten Art jenseits aller gängigen Parameter. Die aktuellen Radarscans und Spektroskopien brachten auch nichts ein, und es gab noch immer keine Schemazeichnung des Objektes im Querschnitt. Man spekulierte erneut über den modus operandi des Antriebes. Die vier ›Türme‹ sahen aus wie spitze Zylinder und könnten der Kommunikation dienen. Oder auch etwas völlig anderem. Dieses Ereignis, das von Anfang an unbegreiflich, geheimnisvoll war, blieb genau das: unbegreiflich und geheimnisvoll. Cromer, selbst mit Czajkwoski und Bals im Nacken, wurde sukzessive ungehalten, und wenn Cromer – er hatte etwas Apodiktisches im Blick – es wirklich tun müßte, um zu Resultaten zu kommen, würde er kurzerhand das halbe Team auswechseln.
Abschließend referierte Selda Lafette, ihre Projektgruppe hätte neue Machbarkeitsstudien und Eventualprogramme gestartet und die Computer mit den entsprechenden Daten gefüttert. Die Fakten: Deimos hielt jetzt mit zweihunderttausend Stundenkilometer auf die Erde zu und würde sie demnach in rund siebzig Stunden erreicht haben.
Siebzig Stunden bis zu einem neuen Zeitalter.
4
Unions-Präsident Aron Berg hatte soeben die Dringlichkeitssitzung des Sicherheitskomitees im durch dicke Kupferplatten in Wänden und Decken abhörsicheren Souterrain des Nordflügels der Brüsseler ›Regierungsvilla‹, wie das Präsidialamt auch genannt wurde, eröffnet. Er faßte die aktuelle Situation in wenigen informativen Worten zusammen und endete mit: „Kein Kontakt bislang. Doch es kommt definitiv hierher, zur Erde.“
Er nahm einen Schluck aus einer dampfenden Tasse und weitete erwartungsvoll die Augen. Alle begriffen, daß er jetzt um das Wort aller bat.
„Die wollen uns einfach nicht antworten.“ Das war Verteidigungskommissarin Sharon Saintluca.
Irrationale Befürchtungen
, dachte Julie Monterrey, die
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