Kaisertag (German Edition)
Blech prasselten. Die von dem Auto aufgewirbelte gelbliche Staubwolke hüllte mehrmals nichtsahnende Ausflügler ein. Endlich gelangten Alexandra und Friedrich an die Ratzeburger Allee.
»Das ist ja die reinste Völkerwanderung«, meinte Prieß, als er sah, dass ganze Familien entlang der Hauptstraße stadtauswärts zogen. »Haben die sich etwa alle die gleiche Route für ihren Pfingstspaziergang ausgesucht?«
»Die wollen sicher zum Flugplatz«, antwortete Alexandra, »zum Tag der offenen Tür. Hast du denn die Plakate nicht gesehen, die überall in Lübeck hängen?«
»Ich hatte ein paar andere Sorgen, als mich um lokale Volksbelustigungen zu kümmern.«
»Wenn man dich so anschaut, könnte man meinen, dass du dich um gar keine Belustigungen kümmerst. Im Ernst, Fritz, du wirkst – wie soll ich sagen? – ausgetrocknet. Es wird Zeit, dass du endlich mal auf andere Gedanken kommst.«
Sie bremste, wendete den Wagen und fuhr nun auch in Richtung Flugplatz. »Pastor Wilhelmi ist frühestens um fünf Uhr mit dem Festgottesdienst für die Gemeinnützige Gesellschaft fertig, und wie ich seine Predigten kenne, wird es sogar noch später. Das heißt, wir haben genug Zeit, den Tag ein wenig zu genießen.«
»Aber wir haben Wichtigeres zu tun«, protestierte Prieß.
»Was denn? Im Augenblick können wir ja doch nichts machen. Oder fällt dir irgendwas ein? Und jetzt keine Widerworte mehr. Ich habe einen meiner seltenen freien Tage, und du solltest dich glücklich schätzen, dass ich ihn mit dir verbringen will, du alter Miesepeter.«
Prieß stöhnte resignierend und fügte sich in sein Schicksal. Ob er sich in Alexandras Gegenwart vergnügen konnte, ohne dass sich die Schatten der Vergangenheit dazwischendrängelten, wusste er nicht. Aber sie hatte recht, er brauchte mal ein wenig Entspannung. Und wenn schon vorläufig nicht in Brasilien, dann doch wenigstens bei einem Pfingstausflug.
Als Mitte der zwanziger Jahre die neu geschaffene Reichsluftflotte eine Fliegerschule in Norddeutschland einrichten wollte, war Blankensee schon zu Beginn der Planungen der Favorit unter den möglichen Standorten gewesen. Die Ebene bei dem winzigen Lübecker Dorf, das eigentlich nur aus einer Handvoll kleiner Bauernhöfe bestand, bot damals ideale Voraussetzungen: Das Land konnte billig erworben werden, die Bahnstrecke nach Büchen führte unmittelbar an dem Areal entlang und die Nähe zur Ostsee machte Übungen wie simulierte Notwasserungen möglich. Es hatte zwar einige Proteste von traditionsbewussten Lübecker Bürgern gegeben, die diesen Einbruch der Moderne in ihre Welt gravitätischer Unveränderlichkeit ablehnten; mit Abscheu hatten sie das Bild eines künftigen Lübeck gezeichnet, dessen berühmte siebentürmige Silhouette von Zeppelinen und Flugzeugen empfindlich gestört wurde und wo die würdevolle Ruhe im Schatten der uralten Giebel von knatternden Aeroplanen zerrissen wurde, die über die Dächer hinwegflogen. Aber die Widerstände gegen den Bau der Fliegerschule waren wirkungslos geblieben, denn die Lübecker hatte, wie fast alle Deutschen, eine grenzenlose Begeisterung für die prachtvolle neue Luftflotte erfasst. Vor allem die Aussicht, dass einige der mächtigen Zeppelin-Luftkreuzer in Blankensee stationiert werden könnten, ließ die Herzen der meisten Lübecker höher schlagen, weil die riesigen Luftschiffe der ganze Stolz des Kaiserreiches waren. 1927 wurden die Anlagen des Flugplatzes Blankensee, offiziell als Fliegerschule IV der Reichsluftflotte bezeichnet, fertiggestellt. Seitdem durchliefen hier Jahr für Jahr Hunderte von Soldaten ihre Ausbildung an Luftschiffen und Flugzeugen.
Friedrich Prieß und Alexandra Dühring schlenderten über das weitläufige Gelände, und der Detektiv ertappte sich dabei, dass ihm die Besichtigung des Flugplatzes Vergnügen bereitete. Vielleicht lag das an der eher lockeren Atmosphäre, die sprichwörtlich für alles war, was mit den Männern der Luftflotte zusammenhing. Bei Heer und Marine sagte man den Fliegern nach, sie wären disziplinlos und unmilitärisch. In Wahrheit war die relativ junge Waffengattung einfach nicht in Rituale und ehrwürdige Traditionen eingeschnürt, und der Umgangston war selbst zwischen Offizieren und Mannschaften oftmals sehr formlos. Alle Flieger betrachteten sich als Kameraden, unabhängig von den Dienstgradabzeichen. Außerdem zählten fliegerisches Können und verlässliche technische Fähigkeiten hier weit mehr als Drill und eifriges
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