Kaisertag (German Edition)
Fenster im ersten Stock ließ er nicht aus den Augen, denn dort hatte in einem Raum die ganze Nacht hindurch Licht gebrannt. Erst vor wenigen Augenblicken war es erloschen, und nun lag die Villa als großer dunkelgrauer Schatten in der Nacht. Nichts regte sich mehr. Der Mann hinter dem Lenkrad streckte sich ein wenig, drückte den Rücken durch und ließ die Augen auch weiterhin nicht von dem Haus. Die grünlich phosphoreszierenden Zeiger der Uhr im Armaturenbrett rückten ein Stück vor. Es war jetzt genau fünf Uhr morgens.
Dienstag, 31. Mai
Die Trauerfeier im Lübecker Dom hatte sich endlos hingezogen. Langatmigen, getragenen Bekundungen der Anteilnahme aus dem Munde des Bischofs, des Bürgermeisters und weiterer Würdenträger waren Gebete gefolgt, dann ein Knabenchor mit deprimierenden Psalmen, und zum Schluss hatten alle Anwesenden in das Lied O Haupt voll Blut und Wunden einstimmen müssen, begleitet von den melancholischen Klängen der großen Orgel. Alexandra hatte sich nicht anmerken lassen, wie sehr ihr die überzogen gravitätische Veranstaltung widerstrebte; sie war bereits glücklich, dass niemand auf die Idee gekommen war, die Namen der Opfer zu verlesen, vielleicht hätte sonst noch jemand bemerkt, dass die Liste in den Zeitungen einen Toten mehr umfasste.
Nun war nach zwei quälend langsam verstrichenen Stunden die Trauerfeier endlich beendet. Noch immer kamen in tiefes Schwarz gekleidete Menschen aus dem Dom, aber die meisten hatten die Kirche bereits verlassen.
Den Pressefotografen und Journalisten war schon im Voraus nahegelegt worden, sich an diesem Tag fernzuhalten, denn man wollte die Hinterbliebenen vor aufdringlichen Fragen und vulgärem Blitzlichtgewitter bewahren.
Unter der ausladenden Krone der Luthereiche auf dem Kirchhof unterhielt Alexandra sich mit einigen Senatoren. Die Polizeipräsidentin kam sich lächerlich vor, weil sie zu diesem formellen Anlass das weiße Koppel mit dem Zierdegen zur Uniform hatte anlegen müssen; sie war fest davon überzeugt, dass kein Accessoire noch schlechter mit einem Rock harmonierte. Und auch mit der Schirmmütze, die sonst nur im Kleiderschrank lag, war sie gar nicht glücklich. Aber sie beklagte sich nicht, denn die Senatoren in ihren dunklen Gehröcken und hohen Zylindern trugen bei dieser Wärme ein noch viel schwereres Los. Das dürfte auch der Grund gewesen sein, weshalb die Herren gleich nach Verlassen des kühlen Kirchenschiffs in den Schatten des Baumes geflüchtet waren.
»Schrecklich, schrecklich«, sagte Senator Wittsand betrübt. »Es fällt mir immer noch schwer zu verstehen, wie so etwas Furchtbares geschehen kann.«
»Ich will Ihnen sagen, warum das passieren konnte«, entgegnete Senator Kaacksteen, ein ehemaliger Offizier, der bekannt dafür war, gerne das Gebaren seiner preußischen Kameraden zu imitieren. »Zu viel Nachgiebigkeit! Was hat das Reich den Dänen in Schleswig-Holstein in den vergangenen Jahrzehnten nicht alles für Zugeständnisse gemacht: eigene Schulen, eigene Abgeordnete im Provinziallandtag, sogar dänischsprachige Beamte in Nordschleswig. Und wie danken sie es uns? Ich sage Ihnen, diese Dänen halten unseren Großmut für ein Zeichen von Schwäche! Man sollte von nun an eine Politik der harten Hand verfolgen. Schluss mit der Freundlichkeit gegenüber dem ganzen gottverfluchten dänischen Abschaum!« Als er den letzten Satz gerade ausgesprochen hatte, wurde ihm bewusst, dass ja eine Frau anwesend war, und er setzte schnell hinzu: »Verzeihen Sie bitte die harschen Ausdrücke, Frau Polizeipräsidentin. Sie sind mir im Eifer des Gefechts herausgerutscht.«
»Mit harter Hand?«, fragte Senator Frahm, der diese Ansicht eindeutig nicht teilte. »Und wie, werter Herr Kaacksteen? So, wie es gestern den ganzen Tag und auch heute noch überall zwischen Tondern und Rendsburg geschehen ist, mit brutal verprügelten Unschuldigen, zerstörten Geschäften und versuchtem Mord?«
»Diese Reaktionen waren vielleicht übersteigert, doch letztendlich waren sie nur Ausdruck des aufgestauten gerechten Volkszorns, der sich Bahn brach«, verkündete Kaacksteen unbeirrt.
Frahm verzog das Gesicht. »Zu einem Volk zu gehören, das sich derartig aufführt, ist alles andere als eine Auszeichnung. Keine Frage, die Verantwortlichen für diese Anschläge müssen gefunden und bestraft werden. Aber man kann doch nicht willkürlich Unbeteiligte für die Verbrechen anderer büßen lassen.«
»Unbeteiligte, Herr Kollege? Ich
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