Kaleidoscope: Kriminalroman (German Edition)
hartem Holz bekommen. Den brauchte er natürlich wegen seines verkrüppelten Fußes. Und in den Händen eines Manns mit zwei gesunden Beinen war ein Gehstock so gut wie ein Knüppel. Aber er hätte sich nicht einmal bei einem Baseballspiel aufrecht halten können, geschweige denn bei einem Kampf. Er konnte keinen Knüppel schwingen, er konnte keinen Schlag landen und er konnte nicht rennen. Er brauchte keinen Gehstock. Er brauchte eine Knarre.
Und Tommy besorgte ihm eine.
»Manche Männer sind von Natur aus besser bestückt als andere«, sagte der freche, kleine Scheißer, als er Jack einen Revolver in die Hand drückte. »Deshalb haben Smith & Wesson für Ausgleich gesorgt.«
»Den kann ich nicht bei mir tragen, Tommy. Der wird mich doch als Erstes filzen.«
»Dann lass ihn im Wagen. Versteck ihn unterm Sitz. Nur für alle Fälle.«
Jack erwähnte nicht, dass er auch schon an eine Schusswaffe gedacht hatte. Die Frage war nur, ob er Gelegenheit haben würde, sie zu benutzen.
»Kennst du den Weg?«
»Ja.«
Jack hatte entschieden, nicht mit dem Boot hinzufahren, sondern mit dem Auto. Doc und Tommy hatten ihm eine Abkürzung gezeigt. Von der Asphaltstraße aus direkt auf eine Sandpiste.
Jack wusste nicht, was Becker im Schilde führte, aber was ihn auch erwarten mochte, er wollte lieber festen Boden unter den Füßen haben.
»Hast du den Zaster?«
»Alles eingesackt«, versuchte er zu scherzen.
»Na dann Hals- und Beinbruch«, sagte Tommy; und die versammelte Schaustellergemeinde murmelte ihren Segen.
Jack fühlte wie üblich seine Gedärme rumoren. Ihm graute vor dieser Begegnung. Ihm graute davor, dem Mann entgegenzutreten, der ihn verstümmelt hatte. Aber diese Leute zählten auf ihn. Er dachte an Luna, ganz allein mit Becker. Er konnte sie nicht im Stich lassen.
Jack bog von der Asphaltstraße auf einen mit Unkraut überwucherten Weg ab, der sich durch ein Dickicht aus Kiefern und Zwergpalmen schlängelte. Die Sonne küsste gerade die Baumwipfel, als Jack Tommys Wagen auf der Uferböschung oberhalb des rostigen Katzenkerkers klappernd zum Halten brachte. Zuerst konnte er den Käfig nicht sehen. Beckers Packard versperrte die Sicht.
Aber als er ausstieg, sah Jack den Käfig. Und er sah auch Luna.
Sie war nackt, ihre Handgelenke gefesselt, und sie hing an ihren ausgestreckten Armen vom Dach des Käfigs. Arno hatte sich dem Anlass gebührend gekleidet wie ein Jahrmarkt-Anreißer, ganz schick in Frack und Zylinder. Er belächelte Jacks abgerissene Erscheinung und drehte Luna an ihrem Strick herum. Immer wieder im Kreis herum. Wie ein Stück Fleisch.
»Nuuuur läppische zeeehn Cent, meine Damen und Herren, um diese AUSSERGEWÖHNLICHE MONDJUNGFRAU zu sehen! Sie kann laufen und sprechen und sie KRIECHT auf dem Bauch wie ein REPTIL!«
»Du verdammter Scheißkerl.« Jack stolperte auf seinem Stock durch das unwegsame Gelände.
Luna konnte ihn hören.
»Jack …? JACK?«
»ICH BIN HIER, LUNA.«
Ihr Stöhnen wurde zu einem Husten, das ihren ganzen Körper durchschüttelte.
»BECKER, LASS SIE RUNTER!«
»Ach, wie ich sehe, hast du keinen Sinn fürs Exotische, mein Lieber. Aber ich lade dich ein, dich an ihr gütlich zu tun. Du willstsie doch, Jack, nicht wahr? Du hast doch Lust auf sie. Und warum auch nicht? Welcher Mann wollte nicht die Mondjungfrau besitzen, sie ganz für sich allein haben?
Aber zuerst musst du zahlen. Wenn du bezahlst, mein Lieber, dann kannst du sie an dich nehmen. Du kannst sie nehmen, Jack, haha, kapiert? Wenn du sie überhaupt noch willst.«
Jack lehnte sich auf seinen Hartholzstock und warf die Tasche mit dem Geld vor die rostige Käfigtür.
»Fünfzig Riesen zusätzlich zu den fünfzig, die du schon hast. Komm und hol sie dir.«
»Hast du noch was anderes dabei, außer diesem Stock, Jack? Irgendwelche Spielzeuge, von denen ich wissen sollte?«
Jack zog seine Jacke aus.
»Dreh dich um.«
Jack drehte sich humpelnd um.
»Deine Hose und deinen Schritt«, befahl Becker als Nächstes und Jack ließ ohne zu murren die Hose runter.
Becker lächelte. »Es ist doch immer wieder aufregend, mit runtergelassenen Hosen erwischt zu werden, nicht wahr, Jack?«
Jack antwortete nicht. Er hatte damit gerechnet, von Arno gedemütigt zu werden. Das machte ihm nun mal Spaß. So geilte er sich auf. Und es spielte auch keine Rolle. Hauptsache, Jack konnte Luna aus diesem verdammten Käfig befreien.
»Na, so was!« Arno beendete seine Inspektion. »Wie finden Sie das, Miss Chevreaux? Unser
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