Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI
Barbarazweige den Bergmann vor dem Teufel gerettet hatten, die kleinen Pflänzchen immer noch weit davon entfernt waren, erntereif zu sein, fühlte Dennis sich von der heiligen Barbara endgültig übers Ohr gehauen. Was auch immer die Erscheinung am Kamener Kreuz ihm hatte mitteilen wollen – mit dem Anbau von Marihuana hatte es offensichtlich gar nichts zu tun gehabt.
Als Dennis und sein Vater am Heiligabend vollgedröhnt und betrunken im Wohnzimmer lagen und die Oma in der Küche den schmerzensreichen Rosenkranz betete, fügte sich Sandy ihrem Schicksal. Sie zog Bluse, Rock, Kniestrümpfe und Krawatte der Schulmädchenuniform an, stieg in ihre alten Rollschuhe, warf sich einen Mantel über und rollte leise aus dem Haus.
Es war einsam auf den Straßen. Hinter den Fenstern leuchtete überall der Weihnachtsschmuck. Auf ihren Rollschuhen bewegte sich Sandy wie auf Eiern, seit ihren Teenagertagen war sie damit nicht mehr unterwegs gewesen. Am liebsten hätte sie losgeheult. Doch sie musste jetzt stark bleiben. Sie tat das für ihre Familie.
Jens König empfing sie in seinem protzigen Loft am Postpark. Gerade als Sandy unten ins Haus gekommen war, hatte sich ein Typ, der sie irgendwie an Murat erinnerte, an ihr vorbei nach draußen gedrückt. Oben räkelte sich Jens König auf einer Ledercouch, die garantiert nicht von IKEA stammte.
»Ahhh!«, sabberte er mit lüsternem Blick, als er Sandy sah. »Bescherung!« Dann beugte er sich vor und zog genüsslich eine Linie Koks vom gläsernen Couchtisch. Er zeigte Sandy seine gelben Zähne. »Dreh dich!«, befahl er. »Ich will sehen, was ich bekomme.«
Sandy ließ ihren Mantel auf den Boden fallen. Nun stand sie in ihrer knappen Schulmädchenuniform vor ihm. Beim Versuch, eine Pirouette zu drehen, verlor sie die Kontrolle über die Rollschuhe und ging in die Grätsche.
»Hast du deine Hausaufgaben gemacht?« Ein hässliches Lachen erklang. »Oder warst du wieder faul und bist ein böses Mädchen gewesen? Muss ich dich bestrafen?«
Sandy spürte Ekel in sich aufsteigen. »Ja, ich bin ein böses Mädchen gewesen!«, spielte sie mit leierndem Tonfall mit. »Ich muss bestraft werden!«
Jens König beugte sich wieder über seinen Glastisch und drehte einen Joint. Genüsslich zündete er ihn an.
»Komm her. Ich zeig dir, was ich mit unerzogenen Mädchen mache. Los, herkommen und auf die Knie!«
Er öffnete seinen Gürtel, lehnte sich zurück, inhalierte tief und fixierte sie mit gierigen, bösartigen Blicken. Sandy ging auf die Knie und schloss die Augen.
Von draußen war ein Glöckchen zu hören. Dann noch eines. Jens König schwieg. Sandy wartete. Nichts geschah. Vorsichtig öffnete sie die Augen. Zu ihrer Überraschung krümmte sich Jens König auf dem Sofa. Seine Augen traten hervor und Schaum quoll aus seinem Mund. Die Glocken draußen wurden lauter. Er würgte, griff sich an den Hals, lief blau an. Und dann, ganz plötzlich, erschlaffte sein Körper und sein Blick starrte leblos ins Leere.
Sandy blickte sich um, verstand nicht, was passierte. Sie kam mit Mühe wieder auf die Beine und rollte zum Sofa. Es war kein Traum, es war Wirklichkeit: Jens König war tot.
Draußen bimmelte es jetzt überall. Offenbar war die Christmette vorbei. Völlig verstört öffnete sie das Fenster und sah hinaus. Der Lärm der Glocken schien die Altstadt einzuhüllen, wogte durch die kalte Dezemberluft und löschte jedes andere Geräusch aus. Sandy kam die Sage der heiligen Barbara in den Sinn: Als am Ende der Teufel besiegt wurde, war das gesamte Ruhrtal erfüllt von mächtigem Weihnachtsgeläut. So abwegig es auch sein mochte, Dennis schien recht zu behalten: Die heilige Barbara hatte sie tatsächlich gerettet.
Die Todesnachricht sprach sich an den Weihnachtstagen in der Kirche und nachmittags beim Kaffeetrinken wie ein Lauffeuer herum.
»Jens wurde mit Strychnin vergiftet«, schnappte Sandy auf. Und: »Die Polizei sagt, es war dem Kokain beigemischt, das er genommen hat. Sie fahnden nun nach dem Drogendealer. Einen türkischen Mann vom Kamener Kreuz.«
Sandy fragte sich, warum Murats Cousin Jens König ermordet haben sollte. Ihre Schulmädchenvisite am Heiligabend war wohl unbemerkt geblieben.
Verwirrt sah Sandy ihrer Oma zu, die die blühenden Barbarazweige in der Vase sortierte und dabei ein Gebet murmelte: »Nimm unseren Gruß entgegen, Sankt Barbara, du Licht auf dunklen Wegen, du Schützer in Gefahr.« Als sie Sandy bemerkte, lächelte sie voller Güte.
Es war Sandy, als
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