Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI
längst klar, dass er gewonnen hatte. Natürlich. Leute wie Jens König bekamen immer, was sie wollten.
Der Teamleiter hatte sich bereits abgewandt, als ihm noch etwas einfiel. »Ach, Sandy«, sagte er und machte ein betretenes Gesicht. »Dein Bruder ist übrigens hier.«
»Dennis?« Sie sah sich hektisch um. Das letzte Mal hatte er volltrunken auf ein Ausstellungssofa Knislinge gekotzt.
»Keine Sorge. Die Sicherheitsleute haben ihn nach draußen gebracht. Aber du kriegst Probleme, Sandy. Er hat hier Hausverbot. Da kann er nicht einfach so reinschneien.«
Verdammt, Dennis! Wenn er schon den ganzen Tag nur rumsaß und kiffte, während sie versuchte, ihnen allen den Arsch zu retten, konnte er doch wenigstens versuchen, ihr dabei nicht in den Rücken fallen.
»Tut mir leid, Chef. Ich kümmere mich drum.«
Der Teamleiter nickte und verschwand. Sie machte eilig die Abrechnung und hastete durch den Eingangsbereich nach draußen.
Dennis hockte mit seinen schmutzigen Baggy Pants unter dem Vordach neben den Fahrradständern auf einem Ausstellungstisch. Er starrte dumpf vor sich hin. Mal wieder völlig zugedröhnt.
»Dennis! Was machst du hier?« Sie versetzte ihm einen harten Stoß. Er rutschte vom Tisch. »Verdammt, ich verlier noch meinen Job!«
»Ey … was soll’n …« Träge rappelte er sich auf und erst jetzt erkannte er Sandy. »Schwesterherz! Du glaubst nicht, was passiert ist.«
»Du hast hier Hausverbot, du Arschloch. Das weißt du genau.«
»Jetzt hör doch erst mal zu. Ich hab die Lösung. Für unsere Probleme. Wegen der Mietschulden und überhaupt.«
»Ach ja?«, blaffte sie. »Hast du etwa einen Job?«
»Job?« Er blickte etwas verdutzt aus der Wäsche. »Nee, viel besser. Heute ist doch der Barbaratag und …«
Der Barbaratag! Das hatte Sandy ganz vergessen. Das hieß, dass sie die Wohnung ganz für sich hatte, wenn sie heimkam, weil der Rest der Familie ausgeflogen war. Denn am Barbaratag wurde auf dem Kamener Marktplatz gefeiert: mit Bratwurst- und Glühweinständen, einem Bühnenprogramm, dem uniformierten Knappenverein und dem Bergwerksorchester.
Ihre Oma ging hin, weil sie katholisch war, natürlich, und ihr Vater, weil er sich in dem Getümmel besaufen konnte. Sandy würde also tatsächlich einmal in Ruhe schlafen können. Ein Glückstreffer.
»Du kennst doch die Geschichte …«, redete Dennis unbeirrt weiter, »… die mit dem Bergmann, der sich mit dem Teufel eingelassen hat, und dann kam die heilige Barbara, du weißt schon, die mit den Kirschzweigen, die an Weihnachten blühen, und dann hat er mit diesen Zweigen den Teufel besiegt.«
Natürlich war Dennis wieder zugekifft bis oben hin, aber warum interessierte er sich plötzlich für Religion? Da stimmte doch etwas nicht.
»Ja, und weiter?«, fragte Sandy misstrauisch.
»Sie ist mir erschienen!«, brach es aus ihm heraus. »Echt! Heute Morgen! Die heilige Barbara. Es ist ein Wunder! Ich schwöre! Sie ist mir erschienen, um uns zu retten. Wie damals den Bergmann.«
»Ja, is klar!« Sandy zog ihr Fahrrad aus dem Ständer und schob es vom IKEA – Parkplatz. Sie wollte nur noch nach Hause. Und schlafen! Dennis lief hinter ihr her.
»Warte doch! Ich schwöre. Sie war es. Heute bei Murat im Schuppen.«
»Bei Murat im Schuppen also?« Murat lebte auf einem abrissreifen Bauernhof direkt am Kamener Kreuz. Der Hof lag in der südwestlichen Ecke des Autobahnkleeblatts und war eine einzige Drogenhöhle. »Was hattet ihr denn da gerade geraucht?«
»Ein bisschen von dem neuen Gras, das Murats Bruder verkauft. Aber nicht viel, nur zum Probieren.« Aufgeregt trabte Dennis neben seiner Schwester her. »Und dann wird es plötzlich hell und eine voll tolle Blondine schwebt da in einem weißen … keine Ahnung, Umhang oder was das war, und überall ist Licht, verstehst du? Sie war es. Die heilige Barbara.«
»Dennis, bitte …«
»Nein, jetzt hör doch mal zu. Begreifst du nicht, was das bedeutet? Das ist wie mit den Zweigen. Ich muss heute Marihuanastecklinge auspflanzen. Am Barbaratag. Daraus wird dann das beste Zeug, was wir hier je gehabt haben. Die Leute werden uns das aus den Händen reißen. Und dann können wir alle Schulden bezahlen. Das wollte sie mir damit sagen.«
Sandy sparte sich jeden Kommentar und fuhr einfach weiter, und Dennis hechelte hinter ihr her.
»He, stopp doch mal!« Und schon war er vor ihr und versperrte ihr schwer atmend den Weg. »Komm, ich muss noch zum Markt, Murat treffen. Der wartet und es ist schon voll
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