Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI
leiser fügt er hinzu: »Irgendwann machen die dich fertig, wart’s nur ab!«
»Besser ein Dieb als ein warmer Bruder«, sagt der Lange. »Außerdem gehen die sowieso alle drauf. Auf ein paar Wochen früher oder später kommt’s da nicht an. Die Männer sollten mir dankbar sein, dass ich den Scheißdreck verkürze.«
»Wirst du …« Der Kleine zögert, die Hand, die die Zigarette hält, zittert. Er will sie in die Hosentasche stecken und merkt erst im letzten Augenblick, dass er sich damit ein Loch hineinbrennen würde. »Wirst du mich verraten?«, fragt er endlich.
Jetzt fingert der Lange umständlich eine Zigarette aus dem Päckchen, das auf dem Tisch liegt, und zündet sie sich ebenso umständlich an. »Kommt darauf an«, sagt er.
»Worauf?«
»Ob du mir ’n Gefallen tust.«
»Was für einen Gefallen?«
Der Lange bläst den Qualm Richtung Decke. »Der Michail muss weg«, sagt er.
»Weg?«
»Er weiß zu viel. Über mich, über dich und Oleg auch. Gefährlich, der Kerl. Sehr gefährlich.«
»Du meinst, wir sollen ihn …?«
Wieder unterbricht der Lange den Kleinen: »Nicht wir, du sollst ihn.«
Der Kleine schluckt. Ihm ist plötzlich kalt. Seine Zähne schlagen aufeinander, als hätte er Fieber. »Ich soll ihn …?«
»Ja. Danach bringen wir ihn in die Schule zu den anderen. Ein Toter mehr oder weniger – wird keiner merken, sollst mal sehen«, antwortet der Lange.
»Warum … warum tust du es nicht selbst?«, fragt der Kleine. Zu der Kälte, die ihn lähmt, hat sich jetzt auch noch das Gefühl gesellt, keine Luft zu bekommen.
»Ich?« Der Lange lächelt. »Ich kann das nicht.«
»Ich auch nicht!«
Der Lange drückt seine Zigarette aus. »Tust du’s nicht, bist du spätestens übermorgen im Lager. Und da kommst du nicht mehr raus. Das verspreche ich dir!«
»Und was ist, wenn ich vorher zur Polizei gehe? Wenn ich denen sage, dass du den Fremdarbeitern das Essen klaust? Dass ich sogar weiß, wem du’s verkaufst? Wenn ich dich und deine sauberen Freunde auffliegen lasse?«
»Nichts wird passieren.« Der Lange nimmt die Füße vom Tisch und gähnt. »Es ist Krieg oder hast du das vergessen? Die Polizei hat verdammt noch mal was Besseres zu tun, als sich um ein paar hungrige Ostarbeiter zu kümmern!« Er schaut auf die Uhr. »Was ist jetzt? Wir haben nicht ewig Zeit!«
Früher Morgen des 19. Mai 1943
Zwei Tage sind seit der Katastrophe vergangen. Überlebende suchen in ihren zerstörten Häusern und Wohnungen nach heil gebliebenen Resten ihres Besitzstands, die Helfer der Organisation Todt haben gleich neben der zerstörten Ruhrbrücke mit dem Bau einer provisorischen Holzbrücke begonnen, nach wie vor trägt der Fluss Leichen Richtung Schwerte. Allein bei Echthausen, dort wo die Ruhr an ihrem nördlichsten Punkt einen Knick macht, sind fast hundert tote Kriegsgefangene aus einem Lager in Neheim angespült worden.
Einen Güterwaggon hat die Wucht der Flutwelle von den Bahnschienen mitten in den Ort getragen. Die Seitenwände hat das Wasser herausgedrückt. Ein Kind wirft Steine gegen den Wagen, seine Mutter stopft im Haus nebenan schmutzige Bettwäsche in einen bereits mit Kleidern beladenen Leiterwagen. Zwei Bestatter, beide in nicht besonders sauberen schwarzen Anzügen, zählen im ausgeräumten Schulsaal die Toten, die unter Decken und Säcken auf dem mit Stroh bedeckten Boden liegen. Hier und da schaut eine Hand oder ein Bein hervor.
»117«, sagt der eine. »Genau wie gestern.«
»118«, widerspricht der andere.
Ein zweites Mal laufen die beiden durch die Reihen der Wassertoten, wie man sie hier inzwischen nennt.
»118«, sagt der eine. »Du hattest recht.« Er wischt sich den Schweiß von der Stirn. »In jedem Fall gibt das Überstunden.«
»Geschäft ist Geschäft«, sagt der andere, und: »Muss heute Nacht einer dazugekommen sein.«
Die beiden lassen ihre Blicke über die kleinen und großen Bündel wandern, die die Helfer in den vergangenen Tagen hier abgelegt haben.
»Der da«, sagt der eine und deutet auf einen mit Kartoffelsäcken bedeckten Körper am äußeren Rand des Leichenhaufens. »Der ist neu.«
»Wie kommst du darauf?«, fragt der andere.
Sein Kollege zeigt auf den zugedeckten Körper. »Trocken«, sagt er. »Knochentrocken. Schau dir die anderen an. Die sind alle nass.« Vorsichtig zieht er die Säcke vom Körper weg. Der Tote ist ein kräftiger Mann. Der Schädel ist kahl geschoren, Hemd und Hose sind Lumpen von undefinierbarer Farbe, die schmutzigen Füße
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