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Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI

Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI

Titel: Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Grafit
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Glauben gehört der Karfreitag als strenger Fasten- und Abstinenztag zur ›Dreitagefeier vom Leiden und Sterben, von der Grabesruhe und der Auferstehung des Herrn‹, die von Gründonnerstag bis in die Osternacht dauert. Entsprechend ernst, nachdenklich und nachdenkenswert erzählt Jürgen Banscherus davon, was am Karfreitag im Jahr 1958 in Wickede geschah …

Jürgen Banscherus
    Nr. 118 – Wickeder Totentanz
    Nacht vom 18. auf den 19. Mai 1943
    »Besser du bist hier oben als unten am Fluss.« Der Kleine zieht an seiner Zigarette. Es ist kurz vor Mitternacht. Auch jetzt sind aus der Schule St. Antonius gegenüber noch Stimmen zu hören. Die Totengräber werden in den nächsten Tagen zu tun haben. Und die Geistlichkeit auch.
    »Weiß nicht«, sagt der Lange, während er seine Füße, die in schmutzigen Militärstiefeln stecken, auf den wackligen Schreibtisch legt. »Meinetwegen hätten die alle ersaufen können. Sind doch Untermenschen – einer wie der andere!«
    Der Kleine öffnet die Tür und lässt seinen Blick über die Reihen der schlafenden Männer wandern. Sie mussten heute nicht arbeiten. In fast allen Wickeder Fabriken standen die Maschinen still – soweit das Wasser sie nicht zerstört hat.
    »Verdammte Tommys«, sagt der Kleine, nachdem er sich wieder hingesetzt hat. Nachts geht die Zeit nicht um. Da ist es gut, wenn man einen zum Reden hat.
    Der Lange nickt. »Die soll’n sich nicht zu früh freuen. Wenn der Führer erst seine Wunderwaffe einsetzt, verschwindet England von der Landkarte. Sollst mal sehen. Dann helfen denen auch ihre verdammten Lancasters nix!«
    Aus der Schleiferei, in der die Fremdarbeiter untergebracht sind, ist plötzlich Stimmengemurmel zu hören. Der Lange reißt die Tür auf: »Ruhe!«, schreit er, dass die Fensterscheiben klirren. »Oder es wird euch leid tun!«
    Während die Glocken von St. Antonius Mitternacht schlagen, zündet sich der Kleine die nächste Zigarette an. »Sie sollen seit gestern schon hundert Leichen aus der Ruhr geholt haben«, sagt er. »Hundert – und es hört nicht auf!«
    Im Ofen knackt das Bruchholz, das sie im Wald gesammelt haben, aus der zerbeulten Kanne auf der Herdplatte zieht der Geruch des Ersatzkaffees durch den Raum. Von draußen ist das Klappern eines Karrens zu vernehmen, der unter lauten Rufen die Kirchstraße hinaufgeschoben wird. Wahrscheinlich bringen sie wieder neue Tote in die katholische Volksschule. Es ist Vollmond. Auch ohne Laternen werden die Helfer genug sehen.
    Bevor die Lancaster-Bomber der Briten die Staumauer der Möhnetalsperre angegriffen haben, hat es Fliegeralarm gegeben. Die Menschen sind, wie sie es immer getan haben, seit die Bomberstaffeln Richtung Ruhrgebiet fliegen, in ihre Keller gegangen. Dort sind sie vom Wasser überrascht worden – vor allem die ärmeren Familien, die Fabrikarbeiter und kleinen Angestellten, die in den dünnwandigen Häusern nahe der Ruhr wohnen.
    »Manchmal habe ich Angst vor denen«, nimmt der Lange den Gesprächsfaden wieder auf.
    »Vor den Tommys?«, fragt der Kleine.
    Der Lange deutet mit dem Kopf zur Tür. »Nicht vor den Tommys! Vor denen da drinnen. Wenn die sich mal gegen uns zusammentun – dann hilft nur beten, sag ich dir. Der Michail ist der Schlimmste.«
    »Findest du?«
    »Auf den hören sie. Alle.«
    Wieder schweigen die beiden. Der Kleine zieht nervös an seiner Zigarette. Normalerweise sagt der Lange kein Wort zu viel. Wenn er gesprächig wird, wie in dieser Nacht, ist was im Busch.
    »Du magst den Oleg, stimmt’s?«, sagt der Lange jetzt.
    Der Kleine spürt, wie ihm die Röte ins Gesicht steigt, und hofft, dass der Lange es im Licht der schwachen Glühbirne nicht bemerkt. »Wieso?«, fragt er mit dünner Stimme zurück.
    »Ist ja auch ’n hübscher Bursche. Wär ich ’n warmer Bruder, könnt der mir schon gefallen.«
    Als der Kleine darauf nichts sagt, fährt der Lange fort: »Ich hab euch gesehen, stell dir vor. Hattest deine Zunge ganz schön tief bei dem Kerl im Hals.«
    »Du … du bist verrückt! Wie kannst du so was behaup…«
    »Du und ’n dreckiger Ostarbeiter – ekelhaft«, sagt der Lange und spuckt auf den Boden, den Oleg am Morgen stundenlang gescheuert hat. »Einer wie du gehört ins Lager. Zu den anderen warmen Brüdern.«
    Der Kleine holt tief Luft. »Und was ist mit dir?« Seine Stimme überschlägt sich. »Bist du etwa ein Heiliger? Na? Du schaffst das Fressen beiseite! Du verkaufst die Sachen unten im Ort und lässt die Männer hungern!« Und etwas

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