Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI
Niemals Frauen, geschweige denn Kinder. Das verlangt mein Ehrenkodex. An irgendetwas muss man sich schließlich festhalten.
Auf fünfunddreißig Männer habe ich es bisher gebracht, wenn man den Kandidaten mitzählt, der an einem Infarkt dahinschied, ehe ich ihm mit meiner Walther den Kopf wegpusten konnte. Denn irgendwo war ja mein Auftauchen auch bei ihm ursächlich für sein Dahinscheiden. Was auch der Kunde begriffen hat, der sich den Job glatte fünftausend kosten ließ. Damals noch Mark. Aber inzwischen habe ich wie alle anderen meine Preise auch eins zu eins umgestellt.
Jetzt sitze ich in der Hellweg-Bahn. Ohne Brille sehe ich bloß nebelhafte Gestalten und seit ein paar Wochen habe ich immer wieder diesen stechenden Schmerz in der linken Brustseite. Egal – ich halte nichts von einem Arztbesuch. Wenn die Zeit abgelaufen ist, muss man sich eben damit abfinden. Wer wie ich ohne Zögern in vier Jahrzehnten fünfunddreißig Männer eliminiert hat, sollte nicht zu sehr am eigenen Leben hängen.
Die Hellweg-Bahn pendelt zwischen dem Dortmunder Hauptbahnhof und Soest, ich arbeite diesmal also quasi vor der Haustür, denn ich stamme aus Soest. Die kleine Stadt bildet einen angenehmen Kontrast zu meinen Einsatzorten. Denn eliminiert wird normalerweise immer nur in den Metropolen: Berlin, München, Brüssel. Manchmal auch Düsseldorf oder Rotterdam.
Eine Ausnahme war in den letzten Jahren nur dieser zu gierige Zwischenhändler, der ausgerechnet in Emsdetten wohnte. Er war so zäh und flink, dass ich ihn erst mit dem sechsten Schuss erledigen konnte. Es heißt, ein Mensch hat durchschnittlich sechs Liter Blut im Leib. Der Kerl in Emsdetten schien mindestens über die doppelte Menge zu verfügen. Was für eine Sauerei und was für ein Hallo in der Emsdettener Lokalpresse.
16:32 Uhr
Noch fünf Minuten bis zur Abfahrt der Hellweg-Bahn.
Die letzten Fahrgäste drängen in den Zug. Eine höchstens zwanzigjährige Frau in Begleitung zweier kleiner Mädchen. Die beiden sind verkleidet. Das kleinere ist weiß geschminkt, ein aufgemaltes und schon etwas verwischtes rotes Rinnsal leuchtet an ihrem Kinn. Das Vampirgebiss mit den weißen Plastikreißzähnen bewirkt bei ihr eine Maulsperre, sodass sie nur zischelnde und lallende Laute von sich geben kann. Ihre größere Schwester, anhand der Ähnlichkeit vermutete ich, dass die beiden Schwestern sind, hat sich in ein Skelettkostüm gezwängt. Sie hat etliche Pfunde zu viel und der Overall spannt sich wie eine Wurstpelle. Die Mädchen nuckeln an diesen Plastikflaschen, die anstelle von Fruchtsaft nur bunte Zuckerbrühe enthalten. Die drei setzen sich links auf zwei Bänke, die sich direkt gegenüberstehen. Ein alter Mann, der mindestens noch zehn Jahre mehr als ich auf dem Buckel hat, ist nach ihnen eingestiegen und schaut sich noch um.
Die verkleideten Kinder erinnern mich daran, dass heute Halloween ist, dieses absurde Kinderkarneval-Spektakel aus den USA, das man jetzt auch hier am letzten Tag im Oktober feiert. Letztes Jahr schellte eine Horde kleiner Gespenster, Vampire und Monster doch tatsächlich an meiner Haustür und quiekte im Chor: »Süßes oder Saures!«
Zuerst war ich ziemlich verärgert, schließlich ist mir meine Abendruhe heilig. Beinahe hätte ich ihnen eine Litanei darüber gehalten, dass der Kostüm- und Bettelquatsch nur dazu dient, Geld in die Kassen der Süßwarenindustrie und der chinesischen Spielzeughersteller zu spülen. Und dass ihre Schminke und Kostüme so voller Schadstoffe stecken, dass sie von Glück reden können, wenn sie am nächsten Morgen mit ein paar juckenden Pusteln davonkommen. Und überhaupt sei der letzte Oktobertag der Reformationstag und obwohl man in unserem Ort mehrheitlich katholisch sei, wäre das kein Grund, sich mit solch überflüssigen Albernheiten über einen Feiertag der Protestanten hinwegzusetzen. Aber die Kinder waren noch ziemlich klein und blickten so erwartungsvoll zu mir auf, dass ich den Mund hielt und ihnen einen Kringel Fleischwurst aus dem Kühlschrank holte. Schokolade habe ich nie im Haus. Ich mag es deftig. Erst waren sie irritiert, aber als einer von ihnen, ein stämmiger Nachbarsjunge, einen Freudenschrei ausstieß, bedankten sie sich artig und zogen johlend weiter.
Der alte Knabe, der mit der Mutter und den zwei Mädchen eingestiegen ist, steuert nun auf mich zu und lässt sich auf den freien Platz neben mir plumpsen. Statt eines Grußes stößt er dabei nur einen Grunzlaut aus. Von ihm geht ein
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