Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI
Jugendzimmer. Die Wände waren vollgepinnt mit Postkarten, Zeitungsfotos und Postern. Nur, dass sich Detlev nicht wie andere Jungs für Popstars, Fußballmannschaften oder Comichelden interessiert hatte. Irritiert betrachteten Joon und Milleck die zugeklebten Wände: Omnibusse. In allen Farben, in allen Modellen. Niederflurbusse, Gelenkbusse, Zweiachser, Dreiachser, rot-weiß lackiert, blau-weiß lackiert, mit und ohne LED-Fahrtzielanzeige. Und auch in der Vitrine unter dem Hochbett, in Reih und Glied aufgebaut: Modelle von Linienbussen.
»Er war ein Pufferküsser!«, sagte Magdalena Woelke mit zittriger Stimme von der Tür her, als sie die Blicke der Kriminalbeamten bemerkte.
»Und was genau macht ein … ähm … Pufferküsser?«, fragte Joon. Magdalena Woelke wirkte völlig paralysiert. Eigentlich war es unverantwortlich, die Frau in diesem Zustand zu befragen, aber Joon wusste, wie entscheidend die ersten Stunden nach einem Verbrechen für die Ermittlungen waren. Wenn es denn ein Verbrechen war.
»Er hat Busse fotografiert. So wie dat andere mit Zügen machen oder mit Flugzeugen. Ein harmloses Hobby. Welches is dat neueste Modell, wo gibbs irgendwatt Besonderes halt. Dat is hier ’ne eigene Clique hier im Kreis. Die treffen sich und tauschen Fotos und Modelle. Und gestern war Karnevalsfeier, da hat der Detlev sich extra die Uniform für bestellt, die von dem … wie heißt er gleich…«
»Gendarm von St. Tropez«, half Milleck aus,
»Genau.« Sie schniefte.
Milleck hatte auf Detlevs Schreibtisch eine Digitalkamera entdeckt. »Und damit hat Ihr Sohn die Busse fotografiert!?«
»Ja, bis letzte Woche … da hatter sich so’n Telefon gekauft, wat alles kann. Ohne wat zum Fotografieren ist der nich aussem Haus.« Milleck blickte zu Joon. Ein Mobiltelefon war bei dem Toten nicht gefunden worden.
Wie auf Stichwort klingelte Millecks Handy. Während der den Anruf annahm, bedankte sich Joon bei Frau Woelke und verabschiedete sich. Milleck folgte ihm aus dem Haus, das Handy am Ohr. »Dann lassen Sie einen Ihrer Leute dort eben die Nacht über da!«, sagte er schließlich und legte auf. »Ich glaub’s ja nicht!«
Richard Joon zog den Reißverschluss seiner Jacke bis zum Kragen zu. Ein Windstoß trieb die restlichen Blätter des Jahres in runden Bahnen über den Asphalt. »Was?«, fragte er.
»Das war Doc Schanz von der Spurensicherung. Dieter Sandner wurde vor einer halben Stunde aus dem Datteln-Hamm-Kanal gefischt. Keine Spuren von Gewalt. SpuSi läuft, das Ergebnis der Autopsie hast du morgen früh auf dem Schreibtisch.« Milleck ließ mit dem Funkschlüssel die Türknöpfe des Vectra nach oben springen. »Außerdem war da noch was: Als Schanz und seine SpuSis sich auf dem Betriebshof der VKU den MAN vornehmen wollten, da haben sie bemerkt, dass das Siegel zur Werkstatthalle aufgebrochen war. Da hat sich wohl über Nacht jemand am Bus zu schaffen gemacht!«
Joon zog die Beifahrertür auf. »Du meinst: an der Tatwaffe, Mike! An der Tatwaffe!«
Montag, 12.11.2012. Halb sechs am Abend.
Unna, Falkstraße 85. Sechster Stock. Vor der Wohnung von Dieter Sandner.
Zu groß für echte Nachbarschaft, zu klein für abgeschie dene Anonymität. Der achtgeschossige Wohnklotz im Süden Unnas war so gesichtslos, dass er ebenso gut in einem Vor ort von Tripolis oder Antwerpen hätte stehen können. Nicht alt, nicht neu, weder schwarz noch weiß, setzte er mit seiner Fassade in acht Variationen von Grau einen düsteren Nicht-Akzent in eine Straßenfront voller anderer Bausünden.
Der Hausmeister der Hausverwaltung blieb professionell teilnahmslos stehen, nachdem er Joon und Milleck die Tür zu Dieter Sandners Appartement mit seinem Notschlüssel geöffnet hatte. »Ist der Sandner denn immer noch nicht aufgetaucht?«
»Doch ist er«, sagte Joon. »Wenn Sie bitte draußen warten würden!«
In dem Apartment ging von der engen Diele rechts das fensterlose Badezimmer ab. Links befand sich eine Abstellkammer, in die nachträglich eine Pantryküche eingebaut worden war. Eine Kochstelle mit zwei Ceranfeldern, daneben eine Mikrowelle. Im Kühlschrank ein paar Zitronen, Margarine, eine angebrochene Packung Toastbrot, Scheiblettenkäse sowie eine große Flasche Doppelkorn und eine Flasche Wodka Gorbatschow . Beide halb voll. Im Wohnzimmer dann eine cordgrüne Bettcouch, vor der ein braun gefliester Couchtisch stand. Darauf ein Karton mit Zigarettenhülsen, eine Blechdose mit Tabak und eine Stopfmaschine.
»Immerhin! Ein bewegtes
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