Kalifornische Sinfonie
Sie fühlte, wie das Kind in ihrem Leibe sich regte, und schüttelte traurig den Kopf. Armes Kind! dachte sie, du wirst in eine komplizierte Welt hineinwachsen. Du wirst sehr viel lernen müssen.
Sie verzichtete von nun an darauf, John gegenüber das Wort Dank auszusprechen, und John seinerseits kam nicht mehr auf jenes Gespräch zurück. Aber er ritt oft an ihrer Seite und machte sie auf die wilden Schönheiten der Gebirgswelt aufmerksam, die sie durchritten. Es war jetzt Ende Mai, die Zeit der dichten Nebel; tagelang ritten sie unter einem gespenstig fahlen Himmel dahin. Der Mai und der Juni seien hierzulande die grauesten Monate des Jahres, erklärte John; es sei dies eine Zeit, in der es weder Sonne noch Schatten gäbe und fast keinen Lichtwandel zwischen Dämmerung und Dunkelheit. Der Himmel glich einem Schieferdach, und er schien so niedrig zu hängen, daß man fortgesetzt meinte, ihn mit der ausgestreckten Hand erreichen und berühren zu können. Der Bodennebel war nur dünn. Zuweilen flogen graue Schleier vor einem her, wie Fetzen nassen Musselins, im allgemeinen aber war der Erdboden nebelfrei, und unter dem tiefdunklen Himmel herrschte unten strahlende Helle. Die Blumen schienen den Nebel zu mögen; sie leuchteten überall in bunter, strahlender Pracht: blaue Lupinen, gelber Senf und purpurner Salbei. Zwischen dem wilden Hafer wogten die grünen Fächer des Anis, standen die flammenden Blüten des wilden Mohns in jeder Farbschattierung vom zarten Elfenbein bis zum tiefen Orange. Die Luft war schwer von Feuchtigkeit und erfüllt vom würzigen Duft des Salbeis. Die Feuchtigkeit schlug sich auf der Haut nieder, netzte das Haar und legte sich wie ein silberner Schleier über die bunten Teppiche der Blumen.
Während der Mittagspause pflückte Nikolai Grigorievitch Hände voll Blumen und brachte sie Florinda und Garnet. Florinda hatte keine besondere Vorliebe für wildwachsende Blumen, aber sie liebte alles, was ihr von der Hand eines Mannes gereicht wurde; und wenn Nikolai den flammenden Mohn und die blauen Lupinen in ihren Schoß fallen ließ, schrie sie vor Entzücken. Ihre Bewunderung war in der Regel nur von kurzer Dauer, aber sie war absolut aufrichtig. Garnet dagegen liebte alle Blumen und sie liebte auch das geisterhaft kühle Licht dieser Tage. Aber trotz aller neuen Eindrücke, die ihr die Reise vermittelte, trotz aller Freude, die sie ihr brachte, ermüdete sie schnell. Das Reiten fiel ihr sehr viel schwerer als vor einem Jahr, als sie noch ihre schlanke Figur hatte. Die Männer taten alles, um ihr die unvermeidlichen Strapazen einer solchen Reise zu erleichtern. Sie legten Garnets wegen lange Mittagspausen ein und ritten ihretwegen sehr viel langsamer, als sie es sonst getan hätten. Garnet war aber vor allem froh, daß sie mit John reiten konnte. John wußte so viel über die Eigenarten und Besonderheiten der Landschaft eindringlich zu erzählen, daß ihr darüber ihre ständige Müdigkeit kaum zum Bewußtsein kam.
Hier und da fiel Garnet auf den Bergabhängen ein merkwürdiges Weingewächs auf, das sich in schmutziggelben Flecken nach allen Seiten ausbreitete und sich mit dem Buschwerk verfilzte. Eines Tages während des Reitens fragte sie John nach diesem Gewächs. »Ist das Wein?« fragte sie, mit der Hand weisend, »das gelbe Gerank da drüben, das sich wie Spinnweben über den Pflanzenwuchs breitet?«
John blickte flüchtig zu den Berghängen hinauf. »Ein erbärmliches Zeug«, sagte er, »es wird hier allgemein ›Liebeswein‹ genannt.«
»Liebeswein?« wiederholte Garnet. »Eine merkwürdige Bezeichnung für so ein widerlich häßliches Gerank. Oder sieht es zeitweise freundlicher aus?«
»Nein«, versetzte John, »es ist nie hübsch anzusehen. Ein Parasitengewächs, das sich wie die Pest ausbreitet, sich überall anklammert und jedes gesunde Pflanzenwerk erstickt. Eben darum heißt es Liebeswein.«
»Das begreife ich nicht. Wer hat den Namen erfunden?«
»Ich weiß es nicht«, versetzte John trocken.
Sie wandte ihm den Kopf zu und sah ihn an: »John –
»Ja?«
»Sie scheinen das für eine treffende Bezeichnung zu halten?«
»Ich wollte Sie gewiß nicht verletzen«, entgegnete John trocken. »Aber versuchen Sie nicht, mich sentimental zu stimmen.«
»So denken Sie also über die Liebe?«
»Sie nicht?« fragte er mit einem Spottzucken in den Mundwinkeln.
»Nein, gewiß nicht. Ich nicht.«
»Vielleicht sollte ich Ihren Idealismus bewundern. Aber ich vermag ihn nicht zu
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