Kalifornische Sinfonie
allmählich leichter und ruhiger werden. Der Cha duftete nach Orangenblüte. Sie trank ihn mit Genuß. Plötzlich wandte sie, aus dem Gefühl heraus, beobachtet zu werden, jäh den Kopf. Kaum zwanzig Schritt von ihr entfernt stand ein blattloser Feigenbaum, der seine Äste und Zweige nackt und kahl nach allen Seiten streckte, und unter diesem Baum, mit dem Rücken an den Stamm gelehnt, stand John.
Er mußte in seiner lautlosen Weise herangekommen sein. Der jahrelange Umgang mit den Indianern mochte ihn das gelehrt haben. Er hielt ein kleines, ziemlich zerfleddertes Buch in der Hand; es war offenbar das Bändchen, das er dem Russen Nikolai geliehen hatte, um ihm das Erlernen der englischen Sprache zu erleichtern. In der anderen Hand hielt er einen Bleistift, und es sah aus, als unterstriche er hier und da eine Zeile in dem Buch. Er schien den Inhalt gut zu kennen, denn seine Augen ruhten nur wenige Sekunden auf dem Papier, dann sahen sie zu ihr hinüber.
Garnet hatte keineswegs die Absicht, mit ihm zu sprechen; im ersten Impuls wollte sie aufspringen und davonlaufen. Sie stand auch auf, doch in dem Augenblick, da sie die Tasse auf der Bank abgestellt hatte, stand John schon neben ihr. Er lächelte ein wenig, das gleiche, ein wenig nachsichtige Lächeln, das er auch bei jener entscheidenden Unterredung im Gesicht gehabt hatte. Und abermals spürte Garnet die wilde Enttäuschung jener schrecklichen Stunde; sie fühlte, wie die Tränen in ihr aufstiegen. Gleichzeitig wußte sie, daß sie ihn würde töten mögen, wenn er sie Tränen vergießen sähe. Aber John blieb ohnehin nur eine Sekunde, er neigte sich über sie, küßte sie leicht auf den Scheitel, flüsterte: »Mein liebes Mädchen!« und ging mit seinen langen und lautlosen Schritten davon. Als er fort war, sah sie, daß er ihr ein Blatt Papier in den Schoß gelegt hatte; offenbar war es eine Seite aus dem alten Gedichtband. Garnet nahm das Blatt auf. Ein Sonnenfinger wies ihr die Stelle, die John unterstrichen hatte. Und sie las die Zeilen, die der Dichter Andrew Marvell vor zweihundert Jahren für eine Dame niedergeschrieben hatte:
»Ja, wenn wir Raum genug hätten, Raum und Zeit,
Ihre Sprödigkeit, Lady, wäre kaum ein Verbrechen … «
Spröde? dachte sie. Wahrhaftig, spröde hat mich noch niemand genannt. Sollte er mich immer noch mißverstehen? Sollte er etwa gar meinen, ich spielte mit ihm? Es machte mir Spaß, ihn hinzuhalten? Und schon kam wieder die Wut in ihr hoch, während sie die weiteren Zeilen las, die John unterstrichen hatte:
»Doch immer hör’ ich es hinter mir murmeln:
Sieh doch die Zeit; sie entflieht wie ein Wagen;
Und Tag für Tag näherst du mehr dich dem Grabe.
Dort magst du ja Ruhe und Frieden wohl finden,
Doch keiner, so fürcht’ ich, umarmt dich mehr dort.«
Garnet zerknüllte das Blatt und warf es gegen den Feigenbaum. Wenn sie draußen schon keinen Frieden haben konnte, dann würde sie sich eben auf ihr Zimmer begeben und dort bleiben. Um Himmels willen, lauf nicht! warnte sie sich dann selbst, während sie die Röcke hob, um das Gras zu durchschreiten. Vielleicht ist er irgendwo hinter dir und beobachtet dich. Du darfst nicht wieder fallen!
So ruhig, wie ihre erregten Nerven es irgend zuließen, ging sie zum Hof hinüber. Dort, wo ein mit Steinfliesen belegter Weg durch den Wildhafer führte, blieb sie stehen und sah sich um. Da stand er hinter ihr, hinter dem letzten Baum vor dem Beginn des Pfades. Sie fühlte ihr Gesicht heiß werden und zitterte vor Grimm und Scham. John sagte ruhig, mit einem leichten Zucken um die Mundwinkel:
»Ich breche morgen früh sehr zeitig auf. Die Wege sind jetzt trocken genug.«
»Leb wohl!« sagte Garnet; denn irgend etwas mußte sie ja wohl sagen.
»Nikolai bleibt noch hier«, fuhr er fort. »Er wird dich und Florinda nach Los Angeles zurückbringen, sobald ihr wollt und dazu bereit seid. Pferde und Lebensmittel und Begleitmannschaft stehen schon bereit.«
Sie hatte überhaupt nicht mehr daran gedacht, wie sie nach Los Angeles zurückkommen würde. Aber, siehe da, er hatte bereits Vorsorge getroffen. Also hatte sie abermals Grund, ihm dankbar zu sein. Plötzlich begann sie zu begreifen, was er gegen das Wort Dank hatte; denn jetzt zitterte sie selber vor Groll, weil sie etwas von ihm annehmen mußte. Es war ein höchst unangenehmes Gefühl. John sagte:
»Ich reite also morgen, aber wir trennen uns nicht für immer. Ich sage dir nicht Lebewohl.« Er sprach jetzt sehr ernst. Und dann
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