Kalifornische Sinfonie
überführt würde«, sagte Oliver. Florinda zuckte die Achseln. »Offen gesagt, Mr. Hale«, sagte sie, »ich glaube nicht, daß irgendein Gericht ein Mädchen mit einem Gesicht wie dem meinen hängen lassen würde. Aber es könnte leicht geschehen, daß ich für eine Zeitlang in das New Yorker Staatsgefängnis käme. Das wäre sogar höchstwahrscheinlich der Fall.«
»Schrecklich genug«, rief Garnet schaudernd.
»Und wenn ich dort eines Tages wieder herauskäme«, fuhr Florinda fort, »dann würde ich nicht mehr solch ein Gesicht haben.«
Sie sagte das so bitter und mit einem so sonderbar wissenden Gesicht, daß Garnet unwillkürlich aufschrie: »Florinda! Sie waren doch noch nicht in einem Gefängnis, nicht wahr?«
»Nein, Darling.« Der Ausdruck in Florindas Gesicht blieb. »Aber ich kannte einige Frauen, die drin waren. Ich weiß, wie man dort mit den Menschen umgeht.«
»Wie, Florinda?« Garnet fühlte sich beinahe krank. Sie hatte noch nie über ein Gefängnis nachgedacht.
Florinda sprach mit beinahe nüchterner Sachlichkeit: »Man arbeitet vierzehn Stunden am Tage, und zwar näht man Säcke und Decken. Dazu bekommt man aufschwemmende Nahrung. Übertritt man irgendwie die Hausordnung, wird man mit Lederriemen auf den nackten Rücken geschlagen.« Sie tastete mit einer fast unbewußten Bewegung nach dem Pelzcape, das über der Sessellehne hing, und streichelte es. »Ich habe Frauen gesehen, die eben aus dem Gefängnis kamen«, fügte sie hinzu. »Das einzige, wonach sie verlangten, war eine Flasche Gin und ein Loch zum Hineinkriechen.«
Garnets Lippen verzerrten sich; es schüttelte sie. »Ich habe nie von so entsetzlichen Dingen gehört«, flüsterte sie. »Ich habe immer in New York gewohnt, aber das klingt, als käme es aus einer ganz anderen Welt.«
Florinda lächelte flüchtig. »New York ist groß«, sagte sie, »und wir beide dürften in verschiedenen Stadtteilen aufgewachsen sein, meine Liebe.«
Vor Garnets Augen stand der immer ruhige, vornehme Union Square. Sie dachte an die vielen Straßen und Plätze, die sie nie hatte betreten dürfen. »Sie werden nicht ins Gefängnis kommen, Florinda«, sagte sie. »Sie haben doch nicht getan, was der entsetzliche Mann vorhin von Ihnen behauptete. Nicht wahr, Sie haben es nicht?«
Florinda stand auf und strich sich mit beiden Händen das silberblonde Haar zurück. Sie hatte den Rücken gegen das zugezogene Fenster gelehnt und sah Oliver und Garnet ruhig an. »Nein«, sagte sie, »ich habe es nicht getan.«
Garnet atmete schwer. »Ich wußte es«, sagte sie.
Oliver blieb kühler. Er sagte: »Wer tötete Selkirk, Florinda?«
»Dieser – uneigennützige Freund namens Reese. Ich dachte, Sie hätten das schon vermutet.«
»Ja«, sagte Oliver, »ich vermutete so etwas. Fahren Sie fort.«
Florinda ergriff mit beiden Händen die Lehne des gerade vor ihr stehenden Sessels und umklammerte sie, während sie antwortete: »Ich trat im ›Schmuckkasten‹ auf. Ich war dort damals der erste Star. Ich arbeitete unter dem Bühnennamen Charline Evans.« Oliver nickte. Florinda fuhr fort:
»Ich bin gewiß kein Engel mit einem Heiligenschein um den Kopf; aber ich hatte nie etwas mit Selkirk zu tun. Es bestand überhaupt keinerlei Beziehung zwischen ihm und mir.«
Olivers Stimme blieb unentwegt ruhig und sachlich: »Waren Sie angeklagt, ihn getötet zu haben?«
»Ja. Reese erschoß ihn. Und dann erzählte er der Polizei, ich sei Selkirks Freundin gewesen und hätte ihn erschossen, weil er nichts mehr von mir wissen wollte. Reese ist ein schwerreicher Mann, er stammt aus einer der alten berühmten Familien. Es war von vornherein klar, daß die Polizei ihm mehr glauben würde als mir. Deshalb verließ ich New York. Meine Freunde halfen mir, sicher herauszukommen. Ich kam nach New Orleans. Das ist eine Reise von zwei Wochen; mir war es, als führe ich ans Ende der Welt. Ich tauchte eine Zeitlang unter. Aber von New York kam nichts. Es blieb alles still. Bei der Geschichte mit Selkirk waren mindestens fünfzig Menschen dabeigewesen; sie hatten gesehen, wie Reese den Revolver zog und schoß. Der eine oder andere würde vielleicht doch die Wahrheit sagen, und die Polizei würde ihm glauben. Jedenfalls glaubte ich schließlich, daß die ganze Sache erledigt und die Gefahr für mich vorbei sei. Ich hielt das zurückgezogene Leben auch nicht mehr aus; ich starb fast vor Einsamkeit. Und außerdem konnte ich auch nicht ewig leben, ohne zu arbeiten und Geld zu verdienen.
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