Kalifornische Sinfonie
gleichgültig; ich bin nicht mit ihm verheiratet. Ich glaube, daß die Meinung, die dein Bruder von der Ehe hat, dumm ist. Sie ist schlimmer als dumm. Sie ist schamlos.«
»Tadele ihn nicht zu sehr, Garnet«, sagte Oliver. »Sehr viele Leute denken über diese Dinge ebenso wie er.«
»Ich habe nie daran gezweifelt, daß sehr viele Leute keine Ahnung von den Dingen haben, die sie achten sollten. Wir brauchen nicht darüber zu reden. Dein Bruder Charles ist nicht imstande, mir Sorgen zu machen.« Sie zog seinen Kopf zu sich herunter und küßte ihn dort, wo das Haar in den Bart überging. Sie lachte: »Jetzt sage ich etwas, was meiner Mutter, wenn sie es hören könnte, einen Schock versetzen würde, der sie ins Bett brächte. Ich sage: Zur Hölle mit Charles! Die Worte drücken genau das aus, was ich meine.«
Oliver brach in lautes Gelächter aus. Er umfing sie mit beiden Armen und küßte sie, daß sein Bart ihr das Gesicht zerkratzte. Es machte ihr nichts aus. Sie liebte ihn. Oliver war wundervoll. Zur Hölle mit Charles!
***
Garnet erwachte mitten in der Nacht. Sie hatte das Gefühl, von einem unangenehmen Gedanken verfolgt und belästigt zu werden. Das Lager war ruhig. Außer dem gelegentlichen Scharren und Schnauben ruheloser Tiere war nirgendwo ein Laut. Dann hörte sie Olivers tiefe, regelmäßige Atemzüge. Oliver lag in festem Schlaf. Während sie dies dachte, wurde ihr bewußt, worüber sie erwacht war. Die Gedanken an Oliver und seine Geschichte hatten sie bis in den Schlaf verfolgt; die innere Unruhe über Oliver hatte sie geweckt.
Oliver war Charles’ wegen beunruhigter, als er zugestand. Sie richtete sich auf und legte behutsam seinen Arm beiseite. Sie strich ihm sacht über das Haar, das ungebärdig und widerspenstig war wie das eines Kindes. Auch seine Stirn war warm und etwas feucht, wie die Stirn eines schlafenden Kindes. Warum erinnerte er sie gerade jetzt, in diesem Augenblick so sehr an ein Kind? Sie wußte die Antwort, bevor sie die Frage noch zu Ende gedacht hatte: Oliver hatte zu ihr wie ein Kind gesprochen. Er hatte geredet wie ein ungezogener kleiner Junge, der einen dummen Streich begangen hat und sich nun vor Strafe fürchtet.
Sie hatte gemeint, Oliver zu kennen. Sie hatte ja auch viel mehr Möglichkeiten gehabt, ihren Mann kennenzulernen, als irgendeine Frau nach so kurzer Ehezeit. Die meisten Eheleute verbrachten ihr Leben in halber Trennung voneinander. Die Frauen lebten zu Hause und die Männer gingen ihren Geschäften nach. Oliver und sie waren, seit sie New York verlassen hatten, ununterbrochen Tag und Nacht zusammen gewesen. Sie teilte sein Leben und seine Arbeit und half ihm nach ihren Möglichkeiten. Sie sah ihn tagtäglich zwischen den Männern, mit denen er arbeitete. Die Männer liebten ihn. Jedermann schien ihn zu lieben, vermutlich deshalb, weil er das seltene Talent hatte, sich allen Arten von Menschen anzupassen. Oh, es war einfach, mit Oliver zu leben. Wenn er irgendwelche Launen hätte oder unangenehme, schlechte Charaktereigenschaften, sie hätte es längst feststellen müssen. Sie hatte bisher nichts dergleichen festgestellt. Er war äußerlich ein starker und ansehnlicher Mann, stattlich und liebenswert, und niemals – bis zu dieser Nacht – war ihr auch nur von fern der Gedanke gekommen, es könnte noch irgendwelche Sprünge und Lücken in seinem Charakter geben. Aber heute, vor wenigen Stunden hatte er sich ihr schwach gezeigt.
Sie dachte: Vielleicht bilde ich mir das nur ein. Ich war ja ein Baby, als ich New York verließ. Ich wußte nichts von der Welt und den Menschen. Alles, was seither an mich herankam, war neu und überraschend. Vielleicht gab er sich auch nur so, weil er sich nicht klarmachte, was für eine Wandlung seit New York mit mir vorgegangen ist. Vielleicht meinte er, ich sei innerlich in großer Sorge und er müsse mich beruhigen. Nun, Kalifornien ist noch weit. Wir haben noch viel Zeit, um über Charles und all diese Dinge zu sprechen.
Ein Windstoß zerrte an den Leinwandplanen der Kutsche. Garnet zog die Decke um ihre Schulter und legte sich nieder. Sie dachte an die Endlosigkeit der Prärie draußen, an die kalten Winde, die durch die Ebene strichen. Sie lag warm und geborgen neben Oliver. Mit einem Lächeln auf den Lippen schlief sie ein.
Sie sprachen nicht viel über Charles nach dieser Nacht. Oliver hatte sehr wenig Zeit; er sprach überhaupt wenig. Die Fahrt wurde schwieriger; er hatte alle Kraft und alle Gedanken nötig, um mit den
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