Kalix - Die Werwölfin von London
ganz schön überrascht.«
Daniel stand auf.
»Ich will heute zwei Stunden vor meiner ersten Vorlesung in der Uni sein; daran siehst du schon, wie ungern ich Moonglow jetzt über den Weg laufen würde.«
Daniel schlich sich hinaus, und wenig später hörte Kalix, wie er so leise wie möglich die Treppe hinunterging und das Haus verließ. Sie lächelte. Der vorige Abend hatte sich lustig angehört. Schade nur, dass sie sich kaum an ihn erinnern konnte.
»Aber jetzt wissen sie über das Laudanum Bescheid«, dachte sie besorgt. »Und Moonglow ist bestimmt böse auf mich, weil ich auf ihren Freund gefallen bin.«
Sie überlegte, ob sie Daniels Beispiel folgen und für eine Weile aus der Wohnung verschwinden sollte. Die Idee erschien ihr gut, also zog sie ihren zerlumpten Mantel an, hängte sich ihre Tasche über die Schulter und schlüpfte leise hinaus. Sie hatte kein bestimmtes Ziel, aber als ihr einfiel, wie sehr ihr die Boote gefallen hatten, steuerte sie den Fluss an.
Auf ihrem Weg nach Norden erregte Kalix viel Aufmerksam 237
keit, aber anders als in letzter Zeit. Früher hatten sich die Leute gefragt, wer dieses kranke, zitternde Mädchen sein mochte. Jetzt lag in ihren Blicken Bewunderung. Kalix war immer noch sehr blass, aber gesünder und sauber. Mit ihren großen, dunklen Augen, den perfekten Wangenknochen und dem unglaublich langen, dunkel glänzenden Haar sah sie aus wie ein junges Model, das auf dem Laufsteg eine neue Kollektion abgerissener Streetwear vorführte.
Kalix war eine außergewöhnliche Schönheit, das schönste Mitglied der Herrscherfamilie der MacRinnalchs, die selbst allgemein als auffallend schöne Familie galt.
III
Für den Fall, dass Jäger von der Avenaris-Gilde in diesem Gebiet patrouillierten, schlug Kalix wachsam einen anderen Weg zum Fluss ein. Sie ging Richtung Nordosten, verirrte sich leicht und steuerte schließlich auf die London Bridge zu. Mittlerweile war es später Nachmittag, und es fing heftig an zu regnen. Kalix zog ihren Mantel enger um sich und setzte ihre Sonnenbrille auf. Die trug sie immer noch gerne zu unpassenden Gelegenheiten.
Hundert Meter vom Fluss entfernt blieb sie stehen und schnupperte. Sie konnte Werwölfe riechen. Wer war das? Jemand, dessen Geruch ihr lange nicht mehr begegnet war. Sie schnupperte noch einmal. Da war mehr als ein Werwolf. In der Luft lagen zu viele andere Gerüche, um sie genau zu erkennen. Neugierig ging sie weiter. Als sie die London Bridge fast erreicht hatte und die Gerüche deutlicher wurden, erkannte sie überrascht ihre Cousine Dominil. Was brachte sie wohl hierher?
Kalix blieb stehen und überlegte zurückzugehen. Bisher hatte Dominil sie noch nie verfolgt, aber warum sollte sie sonst hier
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sein? Sicher hatte Kalix' Mutter sie hergeschickt. Kalix machte ein finsteres Gesicht und wollte gerade umkehren, als sie plötzlich die anderen Werwölfe erkannte. Butix und Delix. Die beiden mochte Kalix lieber als jedes andere Familienmitglied. Sie hatten in der Burg ständig für Chaos gesorgt und Kalix sogar ihren ersten Schluck Whisky gegeben. Kalix war sicher, dass Beauty und Delicious sie nicht verfolgen würden. »Vielleicht sind sie vor dem Clan geflohen, und jetzt will diese schreckliche weiße Wölfin Dominil sie überfallen.« Dominil hatte Kalix immer herablassend behandelt, und Kalix würde ihr das Schlimmste zutrauen. Sie trottete weiter und machte sich bereit, Beauty und Delicious vor der bösen Dominil zu retten.
Kalix fand sich in einer schmalen Nebenstraße zwischen schäbigen Gebäuden wieder. Ein Bauhof, ein verrammeltes Cafe, ein paar leere Ladengeschäfte in schlechtem Zustand. Sie versteckte sich hinter einem weißen Lieferwagen und sah neugierig zu, wie mehrere junge Männer mit Instrumenten in der Hand aus einem Gebäude kamen. Sie luden die Instrumente in einen Wagen. Kalix konnte ein paar Gesprächsfetzen aufschnappen.
»Diese weißhaarige Irre treibt uns ja ständig an.«
»Die ist wahnsinnig. Sie gehört in eine Anstalt.«
»He, lasst gut sein«, sagte der dritte junge Mann. »Immerhin hat sie uns wieder ins Studio gekriegt, oder?«
Der Rest ging unter, als sie losfuhren. Sie waren also Musiker. Und Dominil half ihnen. Kalix stand allein im Regen auf dem Bordstein und überlegte, ob sie hineingehen sollte. Vielleicht wäre es schön, Beauty und Delicious wiederzusehen. Plötzlich fiel Kalix wieder ein, dass die Zwillinge ihr in der Burg zwar Whisky gegeben hatten, aber im Grunde nicht ihre
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