Kalt kommt der Tod (German Edition)
den angsteinflößenden Chim kennen, der mit seinem Vater in der Hütte nebenan wohnte. Chim war achtzehn und der Anführer der Lagergang, er konnte mit dem Bambus kämpfen wie kein Zweiter. Selbst die älteren Männer gingen ihm aus dem Weg, weil er die Tätowierung der Snakeheads trug, einer gewalttätigen Gang, die Vietnam terrorisierte.
Chim lag im Sand vor dem Brunnen, um ihn herum vier malaysische Polizisten, einer kniete neben ihm und drosch ihm seinen Knüppel ins Gesicht. Einmal, zweimal, dreimal.
»Du … verdammt noch mal … wirst hier keinen Ärger mehr machen … kapiert?«, brüllte der Polizist und schlug jedes Mal zu, wenn er seine Worte unterbrach.
Chim lief Blut aus den Ohren.
Aus der Ferne verfolgte der kleine Phong den ungleichen Kampf. Er bebte vor Angst, packte einen faustgroßen Stein und schleuderte ihn gegen Chims Peiniger. Der Polizist kippte vornüber und krampfte beide Hände um seinen Hinterkopf zusammen, wo der Stein ihn erwischt hatte.
Die anderen Polizisten sahen Phong unschlüssig an, der zu geschockt von seiner Tat war, um wegzulaufen. Er reichte ihnen kaum bis zum Gürtel. Was sollten sie mit ihm machen?
Sie machten nichts. Sie verzogen sich.
Chim, der aus mehreren Wunden im Gesicht stark blutete, rappelte sich stöhnend auf.
»Komm her, Kleiner«, rief er. Phong gehorchte und näherte sich ihm zögernd.
»Ich schulde dir was, Kleiner. Und jetzt hilf mir, hol Wasser und bring es zu meiner Hütte.«
In den nächsten anderthalb Jahren brachte Chim ihm sämtliche Tricks mit dem Bambus bei, die er kannte, und Phong erwies sich als gelehriger Schüler. Er übte täglich, bis ihm Arme und Beine wehtaten.
Aber Chim lehrte ihn noch mehr. Immer wieder erklärte er ihm, der nicht begreifen wollte, geduldig, dass Konzentration die wichtigste Waffe war, über die ein Kämpfer verfügte.
Achtsamkeit!
In jedem Augenblick!
Fühle den Löffel in deiner Hand!
Sieh die Wolken!
Rieche die Lotusblüte!
Höre die Vögel!
Schmecke den Reis!
Konzentriere dich, Phong!
Von da an wurde er besser und besser mit dem Bambus, bald schien er mit der Waffe zu verschmelzen.
Chim drillte ihn, ließ nicht locker. Trieb ihn an. Zeigte ihm, was die besten Männer der Gang ihn selbst gelehrt hatten.
Phongs schmächtiger Körper bildete Muskeln. Er wuchs. Er wuchs schnell. Schneller als die anderen Kinder seines Alters.
Es war kein guter Tag für ihn, als ein Land im fernen Europa sich bereit erklärte, ihn aufzunehmen. Das Land hieß Bundesrepublik Deutschland.
Sein Lehrer und Freund Chim, seine Ersatzmutter und ihre Töchter durften nicht mit. Sie mussten im Lager bleiben und auf die nächste Möglichkeit hoffen, Malaysia Richtung Westen zu verlassen.
Am Morgen der Abreise erschien Chim in seiner allerbesten Garderobe, einer frisch gewaschenen Khaki-Hose und einem geflickten T-Shirt, und schenkte Phong den Bambus, mit dem sie so lange gekämpft hatten. Er hatte auch die kleinste Unebenheit abgeschliffen und den Schaft glänzend poliert.
Er überreichte Phong den Pflock so zeremoniell wie eine Friedenspfeife, auf beiden Handflächen.
»Für dich.«
Mehr sagte er nicht, drehte sich um und ging weg.
Der Bambus fühlte sich gut an in Phongs Hand.
Keine vierundzwanzig Stunden später flog eine Boeing 707 der Bundesluftwaffe ihn und zweihundertsiebenundsechzig weitere Vietnamesen zwölftausend Kilometer weit weg in seine neue Heimat. Um sieben Uhr morgens landete die Maschine auf dem Flughafen Hannover-Langenhagen.
Es war kalt in Deutschland.
Phong zog die Rote-Kreuz-Decke, die er in Malaysia bekommen hatte, eng um seinen frierenden Körper und folgte den anderen Passagieren in einen Aufenthaltsraum, wo er warme Nudelsuppe und Reis mit Gemüse zu essen bekam. Die Decke wollte er später nicht mehr hergeben, er besaß sie immer noch.
Er fühlte sich, als wäre er über eine Brücke von einer Seite seines Lebens auf die andere gegangen, doch manchmal zweifelte er daran, ob er je angekommen war.
18
»Deutschland? Davon wusste ich nichts«, sagte Packer und streute ein Päckchen Zucker in seinen zweiten Espresso.
»Nur dass freundliche Menschen dort leben mussten, das sagten alle in Vietnam. Trotzdem träumte jeder von Amerika, alle, die wegwollten, redeten bloß von Amerika.«
Jenna zog ihre Schuhe aus und streifte sich dicke weiße Wollsocken über die Füße. Sie setzte sich zu Packer auf das Sofa, legte die Beine über die Lehne und drückte ihren Rücken gegen seine Schulter, die
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