Kalt
WC-Kabinen und Urinalen zeigte. Er und Shep waren die einzigen Gestalten in diesem spiegelverkehrten Bild. Wen oder was er sonst noch erwartet hatte, wusste er allerdings auch nicht so genau.
Mit einem letzten perplexen Blick auf die verschlossene Kabinentür ging Dylan zu seinem Bruder zurück und legte ihm die Hand auf die Schulter.
Als Shep die Berührung spürte, öffnete er die Augen, senkte den Kopf, ließ die Schultern hängen und nahm auch sonst jene demütige Haltung ein, mit der er üblicherweise durchs Leben trottete.
» Lesen und fahren «, sagte Shep, und Dylan sagte: » Auf geht ’ s. «
20
Nachdenklich wartete Jilly unweit der Kasse an der Tür und blickte hinaus in die Nacht. Sie sah so strahlend aus wie eine Prinzessin, etwa die Erbin eines bildschönen römischen Kaisers, die sich auf ihren Eroberungszügen weit vom heimischen Mittelmeer fortgewagt hatte.
Fast wäre Dylan mitten im Restaurant stehen geblieben, um sie zu beobachten und um sich in jeder Einzelheit einzuprägen, wie sie gerade im gedämpften, vielfach gebrochenen Licht der Kristallglaslampen aussah. Irgendwann wollte er sie genauso malen, wie sie jetzt dastand.
Shepherd, der an öffentlichen Orten immer lieber in Bewegung blieb, weil ein Zögern womöglich irgendwelche Fremden ermuntert hätte, ihn anzusprechen, duldete nicht die kleinste Pause. Wie an einer unsichtbaren Kette zog er Dylan hinter sich her.
Ein hinausgehender Gast legte höflich die Hand an die Krempe seines Stetson, als Jilly beiseite trat, um ihm Platz zu machen.
Als sie den Kopf hob und die zwei Brüder kommen sah, vertrieb greifbare Erleichterung den nachdenklichen Ausdruck aus ihrem Gesicht. Offenbar war etwas mit ihr geschehen, während sie allein gewesen war.
» Was ist denn? «, fragte Dylan, als er bei ihr war.
» Ich sag es dir im Wagen. Verschwinden wir erst mal von hier. Auf geht ’ s. «
Beim Öffnen der Tür legte Dylan die Hand auf eine frische Spur. Verlassenheit, ein bedrückendes Gefühl der Leere und die Düsternis einer einsamen Seele durchdrangen ihn und erfüllten ihn mit der emotionalen Ödnis einer verbrannten, mi t A sche bedeckten Landschaft nach einem alles verzehrenden Feuer.
Sofort versuchte er, sich von der Kraft des auf dem Türgriff verbliebenen Abdrucks zu isolieren, wie er es an der Speisekarte gelernt hatte. Diesmal war er jedoch nicht in der Lage, dem Energiefluss Widerstand zu leisten.
Ohne eine Erinnerung daran, die Schwelle überquert zu haben, fand Dylan sich vor dem Restaurant wieder, wo er über den Parkplatz schritt. Noch Stunden nach Sonnenuntergang entzog die milde Wüstennacht dem Asphalt die gespeicherte Hitze des Tages. Zwischen den Küchendüften, die aus den Abzügen des Restaurants aufstiegen, nahm Dylan einen feinen Teergeruch wahr.
Als er zurückschaute, sah er Jilly und Shep in der offenen Tür stehen, die schon drei Meter hinter ihm lag. Sheps Buch hatte er offenbar fallen lassen, da es nun mitten auf dem Pflaster lag. Er wollte es aufheben und zu Shep und Jilly zurückgehen, aber es gelang ihm nicht. » Wartet hier auf mich! «, rief er.
Irgendetwas trieb ihn immer weiter auf den Parkplatz, vorbei an Limousinen, Pick-ups und Geländewagen, zwar nicht mit der Dringlichkeit, die ihn einige Stunden zuvor dazu gebracht hatte, rücksichtslos seinen Wagen herumzureißen, aber doch mit dem Bewusstsein, dass gleich eine wichtige Gelegenheit vorbeigehen würde, wenn er nicht schnell handelte. Die Kontrolle über sich hatte er dennoch nicht verloren, auf der Ebene des Unterbewusstseins wusste er nämlich genau, was er tat und warum er es tat. Das hatte er bei der halsbrecherischen Fahrt zu dem Haus in der Eucalyptus Avenue zwar auch begriffen, sich da aber trotzdem außer Kontrolle gefühlt.
Diesmal entpuppte sich der Magnet nicht als Oma in bunt gestreifter Uniform, sondern als alternder Cowboy in braunen Jeans und einem Chambrayhemd. Dylan erreichte ihn, als er sich gerade hinters Steuer eines Mercury Mountaineer klemmte, und hinderte ihn daran, die Tür zu schließen.
An dem psychischen Abdruck auf dem Türgriff des Wagens spürte Dylan wieder die niederschmetternde Einsamkeit, die ihm von der Restauranttür her schon vertraut war. Es war eine Mutlosigkeit, die an Verzweiflung grenzte.
Offenbar hatte der Mann im Mountaineer sein Leben lang im Freien gearbeitet. Sein Gesicht war wie gegerbtes Leder. Von den Jahrzehnten in der Sonne, die ihm die Haut gekräuselt und gefältelt hatten, war ihm jedoch
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