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Kaltblütig

Titel: Kaltblütig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Truman Capote
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ehrgeizig, er wollte sie – und sie war verliebt.
    »Mr. Clutter ist viel auf Reisen«, sagte sie zu Jolene. »Er ist ständig woanders. Washington und Chicago, Oklahoma und Kansas City – manchmal habe ich den Eindruck, er ist nie zu Hause. Aber wohin er auch fährt, er denkt immer daran, wie sehr ich für diese kleinen Dinge schwärme.« Sie entfaltete einen winzigen Papierfächer.
    »Den hat er mir aus San Francisco mitgebracht. Er hat nur einen Penny gekostet. Aber ist er nicht schön?«
     
    Im zweiten Jahr ihrer Ehe kam Eveanna zur Welt und drei Jahre später Beverly; nach jeder Niederkunft verfiel die junge Mutter in ebenso tiefe wie unerklärliche Verzweiflung – Schwermutsanfälle, die sie händeringend von Zimmer zu Zimmer geistern ließen. Bis zu Nancys Geburt verstrichen noch einmal drei Jahre, und das war die Zeit der sonntäglichen Picknicks und Sommerausflüge nach Colorado, die Zeit, in der sie ihren Haushalt ohne fremde Hilfe führte und den fröhlichen Mittelpunkt der Familie bildete. Doch bei Nancy und dann schließlich auch bei Kenyon wiederholte sich das Muster postnataler Depression, und nach der Geburt ihres Sohnes war die Trübsal, die sie damals überkommen hatte, nie wieder ganz von ihr gewichen; sie hing über ihr wie eine Wolke, die vielleicht Regen bringt, vielleicht aber auch nicht. Sie hatte »gute Tage«, die sich mitunter gar zu Wochen oder Monaten addierten, aber selbst an den besten dieser guten Tage, wenn sie wieder einmal »ganz die Alte« war, die reizende, warmherzige Bonnie, die ihre Freunde so sehr schätzten, vermochte sie die Energie nicht aufzubringen, die ihr die zahllosen gesellschaftlichen Aktivitäten ihres Mannes abverlangten. Er war ein »Vereinsmensch«, eine »Führernatur«; sie nicht, und damit hatte sie sich abgefunden. Und so gingen sie, sich einen schmalen, von liebevoller Rücksichtnahme und unbedingter Treue gesäumten Pfad entlangbewegend, mehr oder weniger getrennte Wege – der seine führte ihn nach außen, auf die Suche nach immer neuen, nützlichen Eroberungen, der ihre hingegen führte sie nach innen und endete in den kahlen Korridoren von Kliniken und Krankenhäusern. Aber sie hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Ihr Gottvertrauen gab ihr Halt, und von Zeit zu Zeit bestärkten sie ganz profane Dinge in ihrem Glauben an Seine bevorstehende Gnade; sie las von einem Wundermedikament, hörte von einer neuen Therapie oder gelangte, wie vor kurzem, zu der – gänzlich grundlosen – Überzeugung, dass die Schuld bei einem »eingeklemmten Nerv« zu suchen sei.
    »Solche kleinen Dinge gehören einem wirklich, ganz und gar«, sagte sie und faltete den Fächer wieder zusammen. »Man braucht sie nirgendwo zurückzulassen.
    Man kann sie in einem Schuhkarton mitnehmen.«
    »Mitnehmen? Wohin denn?«
    »Auf Reisen, zum Beispiel. Man kann schließlich nie wissen, wie lange so eine Reise dauert.«
    Vor einigen Jahren war Mrs. Clutter zu einer zweiwöchigen Behandlung nach Wichita gefahren und zwei Monate geblieben. Auf Anraten eines Arztes, der meinte, diese Erfahrung werde ihr eventuell zu einem neuen »Gefühl des Gebrauchtwerdens und des Gewachsenseins« verhelfen, hatte sie sich eine Wohnung genommen und Arbeit gefunden – als Registraturkraft beim YWCA. Ihr Mann hatte sich durchaus angetan gezeigt und sie zu diesem Abenteuer ausdrücklich ermuntert, doch es hatte ihr zu gut gefallen, so gut, dass es ihr unchristlich erschien und die daraus resultierenden Schuldgefühle den therapeutischen Nutzen des Experiments am Ende überwogen.
    »Vielleicht kommt man ja nie wieder zurück nach Hause. Und – da ist es ganz wichtig, immer etwas dabei zu haben, das einem wirklich gehört.«
    Die Türklingel schrillte. Es war Jolenes Mutter.
    »Auf Wiedersehen, Liebes«, sagte Mrs. Clutter und drückte Jolene den Papierfächer in die Hand. »Er hat zwar nur einen Penny gekostet – aber er ist schön.«
    Jetzt war Mrs. Clutter allein im Haus. Kenyon und Mr. Clutter waren nach Garden City gefahren; Gerald Van Vleet hatte Feierabend gemacht; und die Wirtschafterin, die gute Mrs. Helm, der sie sich häufig anvertraute, hatte samstags frei. Da konnte sie eigentlich auch gleich ins Bett gehen – das Bett, das sie so selten verließ, dass die arme Mrs. Helm buchstäblich kämpfen musste, um es zweimal wöchentlich frisch zu beziehen.
    Im ersten Stock gab es vier Zimmer, und ihres lag am Ende eines geräumigen Flurs, in dem nichts weiter stand als eine Wiege, die sie für

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