Kaltblütig
die Besuche ihres Enkelsohns erworben hatten. Wenn sie Feldbetten aufstellten und den Flur als Schlafsaal zweckentfremdeten, konnten sie, so schätzte Mrs. Clutter, zu Thanksgiving gut und gerne zwanzig Gäste unterbringen; die anderen würden im Motel oder bei Nachbarn übernachten müssen. Bei den Clutters fand das alljährliche Thanksgiving-Treffen reihum statt, und dieses Jahr war es an Herb, die Feier auszurichten, doch da diese mit den Vorbereitungen für Beverlys Vermählung zusammenfiel, befürchtete Mrs. Clutter, dass sie dem Trubel nicht gewachsen war. In beiden Fällen mussten Entscheidungen getroffen werden – eine Prozedur, die ihr von jeher widerstrebte und sie inzwischen mit regelrechtem Grauen erfüllte, denn während der häufigen Reisen ihres Mannes war sie in einem fort gezwungen, über geschäftliche Belange zu bestimmen, und das war ihr unerträglich, eine Qual. Was, wenn ihr dabei ein Fehler unterlief? Und Herb darüber in Rage geriet? Da schloss sie sich doch lieber in ihrem Zimmer ein und stellte sich taub oder sagte, wie sie es bisweilen tat: »Ich kann nicht. Ich weiß nicht. Bitte.«
Das Zimmer, das sie so selten verließ, war karg und schmucklos eingerichtet; wäre das Bett gemacht gewesen, hätte man meinen können, es sei unbewohnt. Ein Eichenbett, ein Nussbaumschreibtisch, ein Nachtschränkchen – sonst nichts, außer einer Lampe, einem Fenster mit Gardine und einem Bild von Jesus, der auf dem Wasser wandelt. Als ob sie, indem sie das Zimmer unpersönlich hielt und ihre intimen Gegenstände nicht etwa mit heraufbrachte, sondern bei denen ihres Mannes beließ, die Kränkung darüber lindern wollte, dass sie das Bett nicht mit ihm teilte. Die einzige benutzte Schreibtischschublade enthielt ein Töpfchen Wick Vaporub, Kleenextücher, ein elektrisches Heizkissen, mehrere weiße Nachthemden und weiße Baumwollsocken. Sie ging immer mit Socken zu Bett, denn ihr war immer kalt.
Aus demselben Grund hielt sie das Fenster stets geschlossen. Im vorvergangenen Sommer, an einem glühend heißen Sonntag im August, als sie sich wieder einmal hierher zurückgezogen hatte, war es zu einem heiklen Zwischenfall gekommen. Sie hatten Gäste an besagtem Tag, eine Gruppe von Freunden, die sie zum Maulbeerpflücken eingeladen hatten, unter ihnen Wilma Kidman, Susans Mutter. Wie die meisten Besucher der Clutters nahm auch Mrs. Kidwell die Abwesenheit der Hausherrin stillschweigend hin; sie war vermutlich, wie so oft, entweder »indisponiert« oder »in Wichita«. Als es Zeit war, zum Obstgarten aufzubrechen, lehnte Mrs. Kidwell höflich ab; da sie ein Stadtmensch sei und leicht ermüde, bleibe sie lieber im Haus. Während sie auf die Rückkehr der Maulbeerpflücker wartete, hörte sie mit einem Mal ein lautes Schluchzen, herzbetrübt und herzzerreißend. »Bonnie?«, rief sie, lief die Treppe hinauf und über den Flur zu Bonnies Zimmer. Als sie die Tür öffnete, legte sich die im Zimmer aufgestaute Hitze jäh wie eine grauenhafte Hand auf ihren Mund; eilig stürzte sie zum Fenster. »Nicht!«, rief Bonnie. »Mir ist nicht heiß. Mir ist kalt. Ich friere. O Gott, o Gott, o Gott, o Gott!« Sie fuchtelte wild mit den Armen. »Bitte, lieber Gott, mach, dass mich so niemand sieht.« Mrs. Kidwell setzte sich aufs Bett; sie wollte Bonnie in den Arm nehmen, was Bonnie schließlich auch geschehen ließ. »Wilma«, sagte sie. »Ich habe euch gehört, Wilma. Ihr habt gelacht, euch amüsiert. Alles geht an mir vorüber. Die besten Jahre, die Kinder – einfach alles. Nicht mehr lange, dann ist selbst Kenyon erwachsen – ein Mann. Und wie wird er mich in Erinnerung behalten? Als ein Gespenst, Wilma, als ein Gespenst.«
Heute, an diesem letzten Tag ihres Lebens, hängte Mrs. Clutter ihr bunt bedrucktes Hauskleid in den Schrank und zog eines ihrer knöchellangen Nachthemden und ein frisches Paar Socken an. Dann, bevor sie sich schlafen legte, vertauschte sie ihre gewöhnliche Brille mit einer Lesebrille. Obgleich sie mehrere Zeitschriften abonniert hatte (das Ladies’ Home Journal, McCall’s, Readers Digest und Together: Midmonth Magazine for Methodist Families ), lag keine davon auf ihrem Nachttisch – nur eine Bibel mit einem Lesezeichen darin, einem Stück steifer Moireseide mit aufgesticktem Denkspruch: »Sehet zu, wachet und betet; denn ihr wisset nicht, wann es Zeit ist.«
Die beiden jungen Männer hatten wenig gemein, doch das war ihnen nicht bewusst, denn oberflächlich gesehen schienen sie sich
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