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Kaltblütig

Titel: Kaltblütig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Truman Capote
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fiel.
     

 
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D I E   E C K E
     
    Dienstliche Kälte und häusliche Wärme liegen im dritten Stock des Landgerichts von Finney County nah beieinander. Für Erstere steht das Bezirksgefängnis, für Letztere die sogenannte Sheriff’s Residence, eine hübsche Wohnung, die vom eigentlichen Gefängnis durch Stahltüren und einen kurzen Gang getrennt ist.
    Im Januar 1960 wurde die Sheriff’s Residence nicht von Sheriff Earl Robinson bewohnt, sondern vom Hilfssheriff und seiner Frau, Wendle und Josephine (»Josie«) Meier.
    Die Meiers waren seit über zwanzig Jahren verheiratet und einander ziemlich ähnlich: beide hochgewachsen, mit einem Übermaß an Kraft und Körperfülle, mit großen Händen und breiten, ruhigen, freundlichen Gesichtern – insbesondere Mrs. Meier, eine ebenso direkte wie praktisch veranlagte Frau, die dennoch von einer geradezu mystischen Gelassenheit beseelt scheint. Als Gattin des Hilfssheriffs hat sie einen langen Tag; von fünf Uhr morgens, wenn sie selbigen mit der Lektüre eines Bibelkapitels beginnt, bis zehn Uhr abends, wenn sie zu Bett geht, kocht, näht, stopft und wäscht sie nicht nur für die Gefangenen, sondern sorgt obendrein bestens für ihren Mann und ihre Fünfzimmerwohnung, die mit ihren prallen Kissen, bequemen Sesseln und cremefarbenen Spitzengardinen ausnehmend gemütlich wirkt. Die Tochter der Meiers, ihr einziges Kind, lebt mit ihrem Mann in Kansas City, und so lebt das Paar allein – »natürlich nur«, wie Mrs. Meier zu bedenken gibt, »wenn niemand in der Frauenzelle sitzt.«
    Das Gefängnis hat sechs Zellen; die sechste, ausschließlich weiblichen Gefangenen vorbehaltene, ist eigentlich nichts weiter als ein Gitterkäfig in der Sheriff’s Residence – genauer gesagt, gleich neben der Küche. »Aber das macht mir nichts aus«, sagt Josie Meier. »Ich habe gern Gesellschaft. Jemand, mit dem ich mich bei der Küchenarbeit unterhalten kann. Die meisten dieser Frauen können einem wirklich leidtun. Denen hat das Schicksal einfach übel mitgespielt. Bei Hickock und Smith war das natürlich etwas anderes. Soviel ich weiß, war Perry Smith der erste Mann, der jemals in der Frauenzelle saß. Weil der Sheriff die beiden bis nach dem Prozess getrennt unterbringen wollte. An dem Nachmittag, als sie ankamen, habe ich sechs Apfelkuchen und Brot gebacken und den Platz dabei nicht aus den Augen gelassen. Von meinem Küchenfenster aus blickt man über den ganzen Platz; eine bessere Aussicht gibt es nicht. Schätzen ist nicht eben meine Stärke, aber ich würde sagen, es waren mehrere hundert Leute, die sich die Mörder der Clutters ansehen wollten. Ich kannte die Clutters zwar nicht persönlich, aber nach allem, was ich über sie gehört habe, müssen sie brave, anständige Leute gewesen sein. Was ihnen angetan wurde, ist unverzeihlich, und Wendle machte sich Sorgen, wie sich die Menge beim Anblick von Hickock und Smith wohl verhalten würde. Er hatte Angst, dass jemand versuchen könnte, an sie heranzukommen.
    Und so schlug mir das Herz bis zum Hals, als ich die Autos vorfahren sah und die ganzen Reporter und Zeitungsleute, die drängelten und schubsten; aber da war es ja schon dunkel, nach sechs, und bitterkalt – über die Hälfte der Leute hatte aufgegeben und war nach Hause gegangen. Die wenigen, die noch da waren, machten keinen Mucks. Sie gafften bloß.
    Dann brachten sie die Jungs nach oben, Hickock zuerst.
    Er hatte eine leichte Sommerhose an und ein altes Leinenhemd. Ein Wunder, dass er sich bei der Kälte keine Lungenentzündung geholt hat. Trotzdem sah er krank aus. Weiß wie die Wand. Und es ist ja auch furchtbar – sich von einer Horde Fremder angaffen lassen zu müssen, die genau wissen, wer man ist und was man getan hat.
    Dann wurde Smith heraufgebracht. Ich hatte ein kleines Abendessen für die beiden zubereitet, das ich ihnen in der Zelle servieren wollte, eine warme Suppe, Kaffee, ein paar Sandwiches und Kuchen. Normalerweise gibt es nur zweimal täglich Essen. Frühstück um halb acht und um halb fünf die Hauptmahlzeit. Aber die beiden sollten nicht mit leerem Magen zu Bett gehen müssen; es ging ihnen wahrscheinlich so schon dreckig genug. Aber als ich Smith das Abendessen brachte und mit dem Tablett in seine Zelle kam, da sagte er, nein, danke, er hätte keinen Hunger. Er stand mit dem Rücken zu mir und sah aus dem Fenster der Frauenzelle. Von dort aus sieht man dasselbe wie aus meinem Küchenfenster: Bäume und den Platz und Häuserdächer. Ich

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