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Kaltblütig

Titel: Kaltblütig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Truman Capote
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sagte: ›Aber probieren Sie die Suppe doch wenigstens. Es ist Gemüsesuppe, hausgemacht, nicht aus der Dose. Der Kuchen auch.‹ Als ich nach etwa einer Stunde wiederkam, um das Tablett abzuholen, hatte er keinen Bissen angerührt. Er stand immer noch am Fenster. Als hätte er sich nicht vom Fleck bewegt. Es schneite, und ich weiß noch, wie ich sagte, das wäre dieses Jahr der erste Schnee, und was für einen schönen langen Herbst wir doch gehabt hätten. Aber jetzt wäre er vorbei. Und dann fragte ich ihn nach seinem Leibgericht; wenn er eins hätte, wäre ich gern bereit, es ihm zu kochen. Da drehte er sich um und sah mich an.
    Misstrauisch, als ob ich mich über ihn lustig machen wollte. Dann sagte er irgendetwas über einen Film – er sprach ganz leise, flüsterte fast. Er wollte wissen, ob ich den Film gesehen hätte. Den Titel habe ich vergessen, aber ich hatte ihn natürlich nicht gesehen: Ich bin noch nie viel ins Kino gegangen. Er sagte, er spielte zur Zeit der Bibel, und darin gäbe es eine Szene, in der ein Mann vom Balkon in eine aufgebrachte Menge von Männern und Frauen gestürzt wird, die ihn buchstäblich in Stücke reißen. Er sagte, genau daran hätte er denken müssen, als er die Menge auf dem Platz sah. An den Mann, den sie in Stücke reißen. Und dass sie mit ihm vielleicht dasselbe vorhaben. Er meinte, diese Vorstellung hätte ihm einen solchen Schrecken eingejagt, dass ihm davon immer noch der Bauch wehtäte. Und deshalb könnte er nichts essen.
    Das war natürlich Unsinn, und das sagte ich ihm auch – hier würde ihm niemand etwas tun, egal was er angestellt hat; so sind die Leute bei uns nicht.
    Wir unterhielten uns ein wenig, er war sehr schüchtern, aber nach einer Weile sagte er: ›Was ich zum Beispiel sehr gern mag, ist spanischer Reis.‹ Also versprach ich, ihm welchen zu kochen, und er lächelte, und ich dachte – nun ja, mir waren weiß Gott schon üblere Burschen seines Alters untergekommen. Und als wir abends im Bett lagen, sagte ich das meinem Mann. Aber Wendle schnaubte nur.
    Er war damals als einer der Ersten am Tatort gewesen. Er sagte, ich hätte mal dabei sein sollen, draußen bei den Clutters, wie sie die Leichen gefunden haben. Da hätte ich mir selbst ein Urteil bilden können, was für ein netter junger Mann mein Mr. Smith doch war. Er und sein Freund Hickock. Er sagte, die würden dir, ohne mit der Wimper zu zucken, das Herz aus dem Leibe schneiden.
    Da hatte er natürlich recht – schließlich hatten sie vier Menschen umgebracht. Und ich lag wach und fragte mich, ob er sie wohl quälte – der Gedanke an die vier Gräber.«
     
    Ein Monat verging, und noch einer, und fast jeden Tag schneite es. Der Schnee färbte die gelbbraunen Weizenfelder weiß, sammelte sich auf den Straßen der Stadt, dämpfte die Geräusche.
    Die obersten Zweige einer schneeschweren Ulme streiften das Fenster der Frauenzelle. Der Baum war von Eichhörnchen bevölkert, und nachdem er sie wochenlang mit Frühstücksresten geködert hatte, lockte Perry eines der Tiere von einem Zweig auf den Fenstersims und durch die Gitterstäbe. Es war ein Männchen mit kastanienbraunem Fell. Er nannte es Red, und bald hatte Red sich häuslich eingerichtet und schien die Gefangenschaft seines Freundes bereitwillig zu teilen. Perry brachte ihm verschiedene Kunststücke bei: mit einer Papierkugel spielen, Männchen machen, auf Perrys Schulter hocken. Und obgleich ihm all das half, sich die Zeit zu vertreiben, blieben dem Gefangenen viele lange Stunden, die er totschlagen musste. Zeitungen durfte er nicht lesen, und die Zeitschriften, die Mrs. Meier ihm geliehen hatte, langweilten ihn: alte Ausgaben von Good Househeeping und McCall’s. Dennoch wusste er sich zu beschäftigen: Er feilte sich die Fingernägel mit einer Sandblattfeile und polierte sie, bis sie seidig rosa glänzten, er kämmte sich immer wieder das parfümierte, haarwassergetränkte Haar, putzte sich dreioder viermal täglich die Zähne, duschte und rasierte sich fast ebenso oft. Und er hielt die Zelle, in der sich eine Toilette, eine Duschkabine, eine Pritsche, ein Stuhl und ein Schreibtisch drängten, genauso sauber wie sich selbst. Mrs. Meier hatte ihm ein Kompliment gemacht, das ihn mit Stolz erfüllte. »Sieh einer an!«, hatte sie gesagt und auf seine Pritsche gezeigt. »Nun sieh sich einer diese Decke an! Da könnte man glatt Zehn-Cent-Stücke drauf springen lassen.« Aber den größten Teil des Tages verbrachte er am Schreibtisch; dort

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