Kaltblütig
können, hätte er ausgesagt: »Bei Perry Smith lassen sich eindeutige Anzeichen einer schweren Geisteskrankheit feststellen. Wie ich seinen Schilderungen entnehmen und anhand von Auszügen aus seinen Gefängnisakten verifizieren konnte, war seine Kindheit geprägt von Brutalität und mangelnder Fürsorge seitens beider Eltern.
Er scheint ohne Anleitung, ohne Liebe und ohne feste Wertund Moralvorstellungen aufgewachsen zu sein … Er ist orientiert, überaus wachsam seiner Umwelt gegenüber und zeigt keinerlei Anzeichen von geistiger Verwirrung.
Er ist überdurchschnittlich intelligent und verfügt angesichts seiner schlechten Schulbildung über ein gutes Allgemeinwissen … Zwei Charaktereigenschaften sind als besonders pathologisch hervorzuheben. Zum Ersten seine
›paranoide‹ Sicht auf die Welt. Er neigt zu Argwohn und Misstrauen anderen gegenüber, fühlt sich von ihnen ungerecht behandelt, benachteiligt und unverstanden. Er reagiert überaus empfindlich auf Kritik und kann es nicht ertragen, wenn man sich über ihn lustig macht. Er fasst das, was andere sagen, leicht als demütigend oder verletzend auf und neigt dazu, gut gemeinte Äußerungen zu missdeuten. Er verspürt ein starkes Bedürfnis nach Freundschaft und Verständnis, vertraut sich anderen aber nur widerstrebend an und rechnet dabei stets damit, missverstanden oder gar betrogen zu werden. Bei der Beurteilung der Absichten und Gefühle anderer fällt es ihm außerordentlich schwer, zwischen der tatsächlichen Situation und seinen Projektionen zu unterscheiden.
Nicht selten verurteilt er seine Mitmenschen in Bausch und Bogen als scheinheilig und feindselig, woraus er das Recht ableitet, ihnen etwas anzutun. Eng mit dieser ersten Eigenschaft verwandt ist die zweite, eine stets präsente, kaum unterdrückte Wut – die immer dann zum Ausbruch kommt, wenn er sich getäuscht, verunglimpft oder herabgewürdigt sieht. In der Vergangenheit richteten sich seine Wutanfälle größtenteils gegen Autoritätspersonen – Vater, Bruder, Army-Sergeant, Bewährungshelfer – und führten mehrfach zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Sowohl er selbst als auch sein Bekanntenkreis sind sich dieser Wut – die sich in ihm ›aufstaut‹, wie er sagt – durchaus bewusst und wissen um seine Schwierigkeiten, sie im Zaum zu halten. Richtet sich sein Zorn gegen ihn selbst, löst er Suizidgedanken aus.
Diese unkontrollierten Ausbrüche und das Unvermögen, seine Wut zu zügeln oder zu kanalisieren, zeugen von einem grundlegenden Persönlichkeitsdefizit … Darüber hinaus zeigt der Patient erste Symptome einer Störung des Denkvermögens. Geradliniges und systematisches Denken fällt ihm schwer, er scheint unfähig, seine Gedanken zu ordnen oder zusammenzufassen, stattdessen verzettelt und verliert er sich bisweilen in Details, wobei er zum sogenannten ›magischen‹ Denken neigt, das mit einem deutlichen Realitätsverlust einhergeht … Er hatte nur wenige enge emotionale Beziehungen zu anderen Menschen, die geringfügige Krisen jedoch allesamt nicht überdauert haben. Abgesehen von einem sehr kleinen Freundeskreis haben andere für ihn kaum Bedeutung, und er misst einem Menschenleben wenig Wert bei. Die emotionale Distanz, die sich in bestimmten Bereichen als Sanftmut äußert, ist ein weiteres Indiz für seine psychische Abnormität. Obwohl sich ohne zusätzliche Untersuchungen keine exakte psychiatrische Diagnose stellen lässt, kann man sagen, dass seine derzeitige Persönlichkeitsstruktur der eines paranoiden Schizophrenen äußerst nahe kommt.«
Dazu ist anzumerken, dass ein bewährter und weithin anerkannter Fachmann auf dem Gebiet der forensischen Psychiatrie, Dr. Joseph Satten von der Menninger Clinic in Topeka, Kansas, sich mit Dr. Jones beraten und dessen Einschätzung von Hickock und Smith bestätigt hatte. Dr. Satten, der sich später eingehend mit dem Fall befasste, gibt zu bedenken, dass das Verbrechen ohne eine gewisse Reibungswechselwirkung zwischen den Tatern nie geschehen wäre; es sei im Wesentlichen das Werk von Perry Smith, der laut Satten für einen Mördertypus steht, den er in einem Artikel beschrieben hat: »Mord ohne ersichtliches Motiv – Untersuchungen zur desorganisierten Persönlichkeit.«
In dem Artikel, erschienen in The American Journal of Psychiatry (Juli 1960) und entstanden in Zusammenarbeit mit drei Kollegen, Karl Menninger, Irwin Rosen und Martin Mayman, heißt es gleich zu Anfang: »Zur Feststellung der Schuldfähigkeit
Weitere Kostenlose Bücher