Kaltblütig
Mitternacht zurückgekommen sei, habe er das Haus durchwühlt und seine Familie ermordet vorgefunden. Er blieb bei dieser Darstellung und wäre vermutlich niemals davon abgerückt, hätten die Behörden nach seiner Festnahme und Überführung ins Bezirksgefängnis nicht die Unterstützung des Reverend Mr. Virto C. Dameron gesucht.
Reverend Dameron, der an eine Dickens’sche Romanfigur erinnert und mit ebenso humorigen wie weihevollen Worten Hölle und Verdammnis zu beschwören pflegt, war Priester an der Grandview Baptist Church in Kansas City, Kansas, der Kirche, die die Familie Andrews regelmäßig besuchte. Von einem Anruf des Leichenbeschauers aus dem Schlaf gerissen, fand Dameron sich gegen drei Uhr morgens im Gefängnis ein, worauf sich die Detectives, die den Verdächtigen eingehend, aber erfolglos vernommen hatten, in einen Nebenraum zurückzogen, um dem Priester Gelegenheit zu geben, sich unter vier Augen mit seinem Pfarrkind zu beraten. Das Gespräch erwies sich als verhängnisvoll für Andrews, der Monate später einem Freund davon erzählte: »Mr. Dameron sagte: ›Lee, ich kenne dich schon seit deiner Geburt. Als du noch ein winzig kleines Wurm warst. Und auch deinen Daddy kannte ich von Kindesbeinen an, wir sind zusammen aufgewachsen, wir waren die besten Freunde. Und darum bin ich hier – nicht nur weil ich dein Priester bin, sondern weil du für mich gewissermaßen zur Familie gehörst. Und weil du einen Freund brauchst, mit dem du sprechen und dem du vertrauen kannst. Ich bin zutiefst entsetzt über diese entsetzliche Geschichte und hoffe genauso inständig wie du, dass die Schuldigen möglichst bald gefunden und bestraft werden.‹
Er fragte, ob ich Durst hätte, und als ich ja sagte, holte er mir eine Cola, und dann fing er an, von wegen Thanksgiving und wie es mir auf dem College gefällt, und plötzlich sagte er: ›Lee, die Leute hier scheinen Zweifel an deiner Unschuld zu haben. Du hast doch sicher nichts dagegen, dich einem LügendetektorTest zu unterziehen und diese Leute von deiner Unschuld zu überzeugen, damit sie sich auf die Suche nach den Schuldigen machen können?‹ Dann sagte er: ›Lee, du hast diese entsetzliche Tat doch nicht begangen, oder? Wenn ja, ist jetzt der Zeitpunkt, deine Seele reinzuwaschen‹. Da dachte ich, was soll’s, und sagte ihm die Wahrheit, mehr oder weniger. Er schüttelte ungläubig den Kopf und verdrehte die Augen, rieb sich die Hände und sagte, das sei ja entsetzlich und ich müsse mich vor dem Allmächtigen verantworten und meine Seele reinwaschen, indem ich den Beamten sage, was ich ihm gesagt hatte, und ob ich dazu wohl bereit sei?« Auf das bestätigende Nicken des Gefangenen öffnete sein geistlicher Berater die Tür zum Nebenraum, in dem sich eine Schar erwartungsfroher Polizisten drängte, und bat sie freudig erregt herein:
»Kommen Sie. Der Junge ist bereit, ein Geständnis abzulegen.«
Der Fall Andrews führte zu einem regelrechten Grabenkrieg zwischen Ärzten und Juristen. Vor dem Prozess, bei dem Andrews wegen Unzurechnungsfähigkeit auf unschuldig plädierte, hatten die Psychiater der Menninger Clinic den Angeklagten gründlich untersucht; die Diagnose lautete »Schizophrenia simplex«, womit die Mediziner sagen wollten, dass Andrews weder unter gestörter Wahrnehmung noch unter Wahnvorstellungen oder Halluzinationen, sondern an einer primären Spaltung von Denken und Fühlen leide. Er sei sich über das Wesen und die Gesetzwidrigkeit seines Handelns im Klaren und wisse, dass man ihn dafür bestrafen werde.
»Aber«, so Dr. Joseph Satten, einer der untersuchenden Ärzte, »Lowell Lee Andrews zeigte keinerlei Gefühlsregung. Er hielt sich für den einzig wichtigen, den einzig bedeutenden Menschen auf der Welt. Und in seiner eigenen, zurückgezogenen Welt erschien es ihm ebenso wenig verwerflich, seine Mutter zu töten wie ein Tier oder eine Fliege.«
Für Dr. Satten und seine Kollegen war Andrews’ Tat ein so eklatantes Beispiel verminderter Schuldfähigkeit, dass der Fall eine ideale Gelegenheit bot, die in Kansas geltende M’Naghten Rule gerichtlich anzufechten. Nach der M’Naghten Rule hat Unzurechnungsfähigkeit, wie schon erwähnt, grundsätzlich keine strafmildernde Wirkung, sofern der Angeklagte in der Lage ist, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden – und zwar im gesetzlichen, nicht im moralischen Sinne. Zum Leidwesen von Psychiatern und liberalen Juristen hat die Rule an den Gerichten des British Commonwealth und der
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