Kaltblütig
USA, einschließlich des Disctrict of Columbia, auch weiterhin Bestand, ausgenommen etwa ein halbes Dutzend Staaten, die sich auf die weniger strenge, von manchen jedoch als unpraktisch empfundene Durham Rule berufen, nach der ein Angeklagter für seine gesetzwidrige Tat nicht zur Verantwortung gezogen werden kann, wenn diese »Ausfluss einer Geisteskrankheit oder Geistesstörung« ist.
Kurz, was Andrews’ Verteidiger, ein aus Psychiatern der Menninger Clinic und zwei erstklassigen Anwälten bestehendes Team, zu erringen hofften, war ein Sieg von historischer Tragweite. Wenn sie das Gericht dazu bewegen konnten, die M’Naghten Rule durch die Durham Rule zu ersetzen, würde Andrews, aufgrund der vielfältigen Anzeichen einer schizophrenen Erkrankung, mit Sicherheit nicht zum Tode durch den Strang, ja nicht einmal zu einer Haftstrafe, sondern zur Verwahrung in der Staatlichen Anstalt für kriminelle Geisteskranke verurteilt werden.
Die Verteidigung hatte die Rechnung jedoch ohne den religiösen Berater des Angeklagten gemacht, den unermüdlichen Reverend Mr. Dameron, der in der Verhandlung als Hauptzeuge der Anklage auftrat und im schwülstigen Stil eines marktschreierischen Erweckungspredigers zu Protokoll gab, er habe seinen früheren Sonntagsschüler des Öfteren vor dem drohenden Zorn Gottes gewarnt: »Ich sagte, nichts auf dieser Welt ist so kostbar wie deine Seele, und du hast mir bei unseren Gesprächen wiederholt gestanden, dass dein Glaube schwach ist, dass es dir an Gottvertrauen fehlt. Du weißt, dass du dich mit jeder Sünde gegen Gott vergehst und Gott dein letzter Richter ist, vor dem du dereinst Rechenschaft ablegen musst. Mit diesen Worten wollte ich ihm das Entsetzliche seiner Tat begreiflich machen und ihm zu verstehen geben, dass er sich für dieses Verbrechen vor dem Allmächtigen zu verantworten habe.«
Reverend Dameron war anscheinend sehr daran gelegen, dass sich der junge Andrews nicht nur vor dem Allmächtigen, sondern auch vor weitaus weltlicheren Mächten würde verantworten müssen, denn neben dem Geständnis des Beschuldigten war es in erster Linie seine Aussage, die zur Entscheidung führte. Der Vorsitzende Richter hielt an der M’Naghten Rule fest, und die Geschworenen bescherten der Anklage das Todesurteil, das sie gefordert hatte.
Smith und Hickock sollten am Freitag, dem 13. Mai, hingerichtet werden, doch nachdem der Kansas Supreme Court die Urteilsvollstreckung ausgesetzt hatte, bis über die von ihren Anwälten eingereichten Berufungsanträge entschieden war, verlief der Tag ohne besondere Vorkommnisse. Dasselbe Gericht hatte auch über eine Revision des Andrews-Urteils zu befinden.
Perrys Zelle lag neben Dicks; und obwohl sie einander zwar nicht sehen, sich aber ohne weiteres unterhalten konnten, sprach Perry nur selten mit Dick, und zwar nicht etwa, weil sie sich in erklärter Feindschaft gegenüberstanden (nach dem Austausch einiger halbherziger Vorwürfe hatten sie zu einem Zustand gegenseitiger Duldung gefunden, wie siamesische Zwillinge, die sich zwar nicht leiden können, einander aber hilflos ausgeliefert sind); sondern weil Perry, vorsichtig, verschwiegen, argwöhnisch wie immer, vermeiden wollte, dass Wärter und Mitgefangene seine »Privatgespräche« mithören konnten – vor allem Andrews oder Andy, wie er im Todestrakt genannt wurde. Andrews’ dialektfreies Englisch und sein akademisch geschulter Verstand waren Perry ein Dorn im Auge, denn obwohl er über die dritte Klasse nicht hinausgekommen war, hatte er sich stets für gebildeter gehalten als die meisten seiner Freunde und Bekannten und sich einen Spaß daraus gemacht, insbesondere ihre Aussprache und Grammatik zu verbessern. Und nun war da plötzlich jemand – noch dazu »ein halbes Kind!« –, der ihn verbesserte, in einem fort.
Kein Wunder, dass er nie den Mund aufmachte. Solange er sich bedeckt hielt, brauchte er wenigstens keine Angst zu haben, dass ihm dieser College-Knabe mit einem seiner hochnäsigen Sprüche übers Maul fuhr: »Sag nicht immer scheinbar, wenn du anscheinend meinst.« Andrews meinte es gut, er wollte ihm nichts Böses, doch Perry hätte ihn am liebsten in Öl gesiedet – aber das gab er weder zu, noch ließ er die anderen ahnen, warum er, nach einem dieser demütigenden Zwischenfälle, schmollend dasaß und die Mahlzeiten verschmähte, die man ihm dreimal täglich brachte. Anfang Juni trat er in Hungerstreik – »Du kannst meinetwegen hier rumsitzen, bis sie dir die Schlinge um
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