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Kaltblütig

Titel: Kaltblütig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Truman Capote
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hier etwas für Sie. Von Ihrem Vater. Ich dachte, das interessiert Sie vielleicht.« Perry, in dessen wie mit fahlem Pergament bezogenem Schädel übergroße Augen glänzten, stierte an die Decke; und nachdem er eine Ansichtskarte auf den Nachttisch des Patienten gelegt hatte, verließ der abgewiesene Besucher das Zimmer.
    Nachts sah Perry sich die Karte an. Sie war an den Direktor adressiert und in Blue Lake, Kalifornien, abgestempelt; er erkannte die klobige Schrift auf der Rückseite sofort: »Sehr geehrter Herr, wie ich höre, sitzt mein Sohn Perry wieder in Haft. Bitte schreiben Sie mir was er dies Mal ausgefressen hat und ob ich ihn besuchen kommen kann. Mir gehts gut und ich hoffe Ihnen auch.
    Tex J. Smith.« Perry vernichtete die Karte, bewahrte sie jedoch im Gedächtnis, denn die wenigen ungelenken Worte hatten Gefühle wachgerufen, Liebe und Hass in ihm geweckt und ihn daran erinnert, dass er immer noch genau das war, was er unter keinen Umständen sein wollte – am Leben. »Da habe ich beschlossen«, erzählte er später einem Freund, »es gut sein zu lassen. Wer mir das Leben nehmen wollte, würde darum kämpfen müssen.
    Von mir hatte er jedenfalls keine Hilfe mehr zu erwarten.«
    Am nächsten Morgen bat er um ein Glas Milch, die erste Nahrung, die er seit vierzehn Wochen freiwillig zu sich nahm. Er wurde auf eine Diät aus Orangensaft und Eierbier gesetzt und nahm allmählich wieder zu; im Oktober befand ihn der Gefängnisarzt Dr. Robert Moore für ausreichend genesen, um in den Todestrakt zurückverlegt zu werden. Als er dort ankam, lachte Dick und sagte: »Willkommen zu Hause, Schätzchen.«
     
    Zwei Jahre vergingen.
    Nach dem Abgang von Wilson und Spencer blieben Smith, Hickock und Andrews allein im Todestrakt zurück, hinter dessen vergitterten Fenstern Tag und Nacht die Lichter brannten. Die Privilegien, die man gewöhnlichen Gefangenen zugestand, waren ihnen verwehrt; kein Radio, keine Kartenspiele, ja nicht einmal Hofgang – sie durften ihre Zellen nicht verlassen, außer samstags, wenn sie in den Duschraum geführt und mit frischer Kleidung versorgt wurden; kurzfristige Abwechslung verschafften ihnen nur die seltenen Besuche ihrer Anwälte oder Verwandten. Mrs. Hickock kam einmal im Monat; nach dem Tod ihres Mannes hatte sie die Farm aufgeben müssen und wohnte jetzt, wie sie Dick erzählte, mal bei diesen, mal bei jenen Verwandten.
    Perry schien es, als lebte er »tief unter Wasser« – vielleicht weil es im Todestrakt normalerweise so grau und still war wie am Meeresgrund, lautlos, bis auf gelegentliches Schnarchen, Husten, das Flüstern filzbeschuhter Füße und das Flattern und Flügelschlagen der Tauben, die in den Gefängnismauern nisteten. Aber das war nicht immer so. »Manchmal«, schrieb Dick in einem Brief an seine Mutter, »kann man keinen klaren Gedanken fassen. Sie sperren Gefangene in die Zellen unter uns, das sogenannte Loch, und die meisten von ihnen sind buchstäblich rasend vor Wut und obendrein verrückt. Sie fluchen und schreien in einer Tour. Es ist unerträglich, darum fangen alle anderen an, ›Halt’s Maul!‹ zu brüllen.
    Ich wünschte, du könntest mir Ohropax schicken. Aber das würden sie mir sowieso wegnehmen. Den Verdammten gönnt man keine Ruhe.«
    Das kleine Gebäude stand seit über hundert Jahren und litt im Wechsel der Jahreszeiten unter entsprechenden Symptomen: Im Winter setzte die Kälte sich in Stein und Eisen fest, und im Sommer, wenn das Thermometer nicht selten achtunddreißig Grad und mehr anzeigte, glichen die alten Zellen stinkenden Hexenkesseln. »Die Hitze verbrennt mir fast die Haut«, schrieb Dick in einem Brief vom 5. Juli 1961. »Ich versuche, mich möglichst wenig zu bewegen. Meistens sitze ich auf dem Boden. Mein Bett ist so verschwitzt, dass ich mich nicht hinlegen mag, und von dem Gestank wird mir schlecht, weil wir nur einmal die Woche baden dürfen und immer dieselben Sachen tragen müssen. Es gibt keinerlei Belüftung, und die heißen Glühbirnen machen alles nur noch schlimmer.
    Ständig klatschen Insekten gegen die Wände.«
    Im Gegensatz zu den gewöhnlichen Gefangenen dürfen die zum Tode Verurteilten nicht arbeiten; sie können mit ihrer Zeit anfangen, was sie wollen – den ganzen Tag schlafen, wie Perry es häufig tat (»Ich stelle mir vor, ich bin ein kleines Baby, das die Augen nicht offen halten kann«), oder, wie Andrews, die ganze Nacht lesen.
    Andrews brachte es im Durchschnitt auf fünfzehn bis zwanzig Bücher

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