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Kaltblütig

Titel: Kaltblütig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Truman Capote
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den Hals legen. Ich mach da nicht mit«, erklärte er Dick – und verweigerte fortan sowohl Nahrung als auch Wasser und sprach mit niemandem mehr ein Wort.
    Nachdem er fünf Tage gefastet hatte, nahm ihn die Anstaltsleitung endlich ernst. Am sechsten Tag ließ sie ihn ins Gefängniskrankenhaus verlegen, doch auch diese Maßnahme konnte Perry nicht zum Einlenken bewegen; als man versuchte, ihn zwangszuernähren, setzte er sich mit Händen und Füßen zur Wehr, warf den Kopf hin und her und biss die Zähne zusammen, bis die Kieferstarre einsetzte. Schließlich musste er fixiert und intravenös oder über eine durch die Nase eingeführte Magensonde ernährt werden. Trotzdem sank sein Gewicht im Lauf der folgenden neun Wochen von gut 75 auf knapp über 50 Kilo, und das Krankenhaus wies die Anstaltsleitung darauf hin, dass der Patient auch mittels künstlicher Ernährung auf Dauer nicht am Leben zu erhalten sei.
    Obwohl ihm Perrys Willensstärke imponierte, wollte Dick partout nicht wahrhaben, dass er tatsächlich die Absicht hatte, sich umzubringen; selbst als es hieß, Perry liege im Koma, erklärte er Andrews, mit dem er sich inzwischen angefreundet hatte, sein ehemaliger Komplize simuliere nur. »Der will doch bloß, dass die ihn für verrückt halten.«
    Andrews, ein zwanghafter Esser (er hatte ein ganzes Skizzenbuch mit Bildern von Nahrungsmitteln vollgezeichnet, von Erdbeerkuchen bis Schweinebraten), sagte:
    »Vielleicht ist er ja wirklich verrückt. Wenn er sich so zu Tode hungert.«
    »Der will doch bloß hier raus. Alles nur Schau. Damit sie ihn für verrückt erklären und in die Klapsmühle stecken.«
    Dick zitierte Andrews’ Antwort später immer wieder gern, denn sie schien ihm ein hervorragendes Beispiel für die »krausen Gedanken« und die »selbstgefällige« Verschrobenheit des Jungen. »Also«, hatte Andrews angeblich gesagt, »ich kann mir weiß Gott angenehmere Methoden vorstellen, als zu hungern. Denn früher oder später kommen wir ja doch alle hier raus. Entweder auf den eigenen zwei Beinen – oder wir werden in einem Sarg hinausgetragen. Mir persönlich ist das Jacke wie Hose.
    Eins ist so gut wie das andere.«
    »Weißt du, was dein Fehler ist, Andy?«, fragte Dick.
    »Du hast keine Achtung vor dem Leben. Nicht mal vor deinem eigenen.«
    Andrews bejahte. »Und«, setzte er hinzu, »ich will dir noch was sagen. Wenn ich hier jemals lebend rauskomme, ich meine, ab über die Mauer – dann weiß zwar keiner, wohin Andy verschwunden ist, aber wo er war, das weiß dann jeder.«
    Den ganzen Sommer über schwankte Perry zwischen halbwachem Stupor und unruhigem, Schweiß treibendem Schlaf. In seinem Kopf dröhnten Stimmen; eine davon fragte immer wieder: »Wo ist Jesus? Wo?« Einmal wachte er auf und schrie: »Der Vogel ist Jesus! Der Vogel ist Jesus!« Seine alte Lieblingsfantasie, in der er als »Perry O’Parsons, das Ein-Mann-Orchester« auftrat, kehrte in Form eines wiederholten Traums zurück. Das geografische Zentrum des Traums bildete ein Nachtclub in Las Vegas, wo er im weißen Smoking und mit einem weißen Zylinder auf dem Kopf im Scheinwerferlicht über die Bühne stolzierte und abwechselnd Mundharmonika, Gitarre, Banjo, Schlagzeug spielte, »You are My Sunshine« sang und eine kurze, leuchtend goldene Showtreppe hinaufsteppte; oben angekommen, verbeugte er sich.
    Doch niemand klatschte, obwohl Tausende von Zuschauern den riesigen, protzig ausstaffierten Saal bevölkerten – ein seltsames Publikum, hauptsächlich Männer und hauptsächlich Neger. Der schwitzende Entertainer starrte sie an, und mit einem Mal wurde ihm klar, warum sie schwiegen, denn plötzlich wusste er, dass sie Phantome waren, die Geister derer, die im Namen des Volkes und durch die Hand des Scharfrichters gestorben waren, am Galgen, in der Gaskammer, auf dem elektrischen Stuhl – und im selben Augenblick begriff er, dass er hier war, um einer der Ihren zu werden, dass die goldene Treppe zu einem Schafott führte, dass sich die Plattform, auf der er stand, unter ihm öffnete. Der Zylinder fiel ihm vom Kopf, und Blase und Darm entleerend, ging Perry O’Parsons in die Ewigkeit ein.
    Als er eines Nachmittags aus einem Traum aufschreckte, stand der Gefängnisdirektor neben seinem Bett. »Sie haben wohl einen kleinen Albtraum gehabt?«, sagte der Direktor. Doch Perry gab keine Antwort, und der Direktor, der den Gefangenen wiederholt im Krankenhaus besucht und ihn beschworen hatte, sein Fasten zu beenden, sagte: »Ich habe

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