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Kaltblütig

Titel: Kaltblütig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Truman Capote
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Pferd zu sehr«, hatte sein Vater ihn gewarnt. »Eines Tages wirst du es noch zuschanden reiten.« Und er sollte recht behalten; als Skeeter mit seinem Herrn und Meister im Sattel einen Feldweg entlangpreschte, versagte ihm das Herz, er stürzte und war tot. Heute, ein Jahr später, trauerte Kenyon immer noch um ihn, obwohl sein Vater sich seiner erbarmt und ihm versprochen hatte, sich im Frühling ein Fohlen aussuchen zu dürfen.
    »Kenyon?«, sagte Nancy. »Meinst du, bis Thanksgiving kann Tracy sprechen?« Tracy, noch kein Jahr alt, war ihr Neffe, der Sohn ihrer Schwester Eveanna, der sie sich besonders eng verbunden fühlte (Kenyon mochte Beverly lieber). »Ich war völlig aus dem Häuschen, wenn er ›Tante Nancy‹ sagen würde. Oder ›Onkel Kenyon‹. War das nicht irre? Wie fühlst du dich eigentlich so als Onkel? Kenyon?
    Meine Güte, warum kannst du mir nicht einmal eine Antwort geben?«
    »Weil du blöd bist«, sagte er und warf ihr eine Blume zu, eine verwelkte Dahlie, die sie sich ins Haar steckte.
    Mr. Helm nahm seinen Spaten. Krähen krächzten, und der Sonnenuntergang war nicht mehr fern, ganz im Gegensatz zu seinem Haus; die chinesischen Ulmen links und rechts der Auffahrt hatten sich in einen dunkelgrünen Tunnel verwandelt, und er wohnte am Ende dieses Tunnels, eine halbe Meile entfernt, »’n Abend«, sagte er und machte sich auf den Weg. Doch drehte er sich noch einmal um. »Und das«, gab er tags darauf zu Protokoll, »war das letzte Mal, dass ich die beiden lebend gesehen habe. Nancy brachte die alte Babe in den Stall.
    Wie gesagt, nichts Besonderes.«
     
    Wieder stand der schwarze Chevrolet, diesmal vor einem katholischen Krankenhaus am Rande von Emporia. Von Perrys fortwährenden Sticheleien entnervt (»Genau das ist dein Problem. Es muss immer alles nach dir gehen – und wenn nicht, bist du beleidigt«), hatte Dick schließlich klein beigegeben. Während Perry im Wagen wartete, war er ins Krankenhaus gegangen, um einer Nonne ein Paar schwarze Strümpfe abzuschwatzen. Diese reichlich unorthodoxe Beschaffungsmethode war Perrys Idee gewesen; Nonnen, so seine Begründung, kauften sie bestimmt auf Vorrat. Die Sache hatte nur einen Haken; Nonnen und alles, was damit zusammenhing, brachten Unglück, und Perry nahm seinen Aberglauben äußerst ernst. (Weshalb er sich unter anderem vor der Zahl 15 fürchtete, wie auch vor rotem Haar, weißen Blumen, Priestern, die eine Straße überqueren, und Schlangen, die einem im Traum erscheinen.) Aber es führte nun mal kein Weg daran vorbei. Zwanghaft abergläubische Menschen glauben oft auch an die Kraft des Schicksals; Perry machte da keine Ausnahme. Nicht weil ihm danach war, hatte er sich auf dieses zweifelhafte Unterfangen eingelassen, sondern weil das Schicksal es so wollte, das konnte er sogar beweisen – was er Dick jedoch wohlweislich verschwieg, da er sich sonst zum wahren und heimlichen Motiv seiner Rückkehr nach Kansas hätte bekennen müssen, mit der er gegen seine Bewährungsauflagen verstoßen hatte, und zwar aus Gründen, die mit Dicks Brief und dem darin skizzierten »Ding« in keinerlei Zusammenhang standen. Vor einigen Wochen nämlich hatte er erfahren, dass am Donnerstag, dem 12.November, ein anderer ehemaliger Zellengenosse aus dem Kansas State Penitentiary in Lansing entlassen werden würde, und »mehr als alles auf der Welt« wünschte er sich ein Wiedersehen mit diesem Mann, seinem »einzigen echten Freund«, dem »genialen« Willie-Jay.
    Im ersten seiner drei Jahre im Gefängnis hatte Perry Willie-Jay nur aus der Ferne beobachtet, mit ebenso viel Argwohn wie Interesse; wenn man als harter Bursche durchgehen wollte, war es unklug, sich mit jemandem wie Willie-Jay einzulassen. Willie-Jay war der Gehilfe des Kaplans, ein schlanker Ire mit vorzeitig ergrautem Haar und melancholischen grauen Augen. Seine Tenorstimme war der Stolz des Gefängnischors. Selbst Perry, der für jede Art von Frömmigkeit nichts als Verachtung übrighatte, fühlte sich »ergriffen«, wenn Willie-Jay das »Vaterunser« sang; der feierliche, in geradezu heiliger Einfalt vorgetragene Text des Kirchenliedes rührte ihn, erfüllte ihn mit leisen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit seiner Verachtung. Schließlich jedoch, getrieben von zögernd erwachter religiöser Neugier, sprach er den Kaplansgehilfen an, der sich überaus aufgeschlossen zeigte und in dem verkrüppelten Bodybuilder mit dem verhangenen Blick und der rauchigen, prononcierten Stimme einen »Dichter«

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